Erde im Bauch

Bilder wie aus der Hölle: Der großen Hungersnot von 1958 bis 1962 fielen in China 45 Millionen Menschen zum Opfer. „Maos großer Hunger“ – Frank Dikötters erschütternde Studie aus einer apokalyptischen Welt.

In der Not frisst der Teufel Fliegen – und der Hungernde frisst, wenn es nichts anderes mehr gibt, Lehm. Wie in der Volksrepublik China in den Horrorjahren von 1958 bis 1962. Draußen in den Provinzen boten sich Bilder wie aus der Hölle. Fotografien der apokalyptischen Hungersnot gibt es ja keine – jedenfalls keine, die je veröffentlicht worden wären.

Also ist man auf literarische Beschreibungen angewiesen, wie jene, die Inspektoren aus dem Kreis Lingxian in Sichuan abgeliefert haben: „Geisterhafte Gestalten, die ausgemergelten Gestalten schweißnass von der Sommerhitze, standen Schlange vor tiefen Gruben und warteten darauf, in eines der Löcher hinabsteigen und ein paar Hände vollporzellanweißem Lehm aus der Wand kratzen zu können. Kinder, deren Haut sich über die Rippen spannte, wurden vor Erschöpfungohnmächtig, und ihre schmutzigen Körper bleiben wie Lehmklumpen auf dem Boden der Grube liegen. Alte Frauen, von denen nurKleiderfetzen hingen, verbrannten Papieramulette, verbeugten sich mit gefalteten Händen und murmelten sonderbare Beschwörungen. Mehr als 10.000 Menschen holten eine Viertelmillion Tonnen Erde aus den Gruben.“ Erde im Bauch wirkt wie Zement, trocknet den Magen aus. Darmentleerung ist nicht mehr möglich – ein qualvoller Tod ist die Folge der Lehmesserei.

Nach dem chinesischen Journalisten Yang Jisheng („Grabstein“, siehe „Spectrum“vom 4.August 2012) legt der aus den Niederlanden stammende und in Hongkong lehrende Historiker Frank Dikötter eine ausführliche Studie zur größten Hungersnot des 20.Jahrhunderts vor. Aus ihr stammt die abgedruckte Passage, die auch zeigt: Der Mann kann gut schreiben. Sein Buch beeindruckt auch durch den klaren Aufbau, und Dikötter scheut sich nie, klare und scharfe Urteil zum historischen Geschehen abzugeben.

Dikötter setzt die Zahl der Hungertoten während der vier Katastrophenjahre mit mindestens 45 Millionen sogar noch höher an als Yang Jisheng, der 36 Millionen Opfer errechnet hat. Nach den Forschungen des Niederländers wurden wenigstens 2,5Millionen von diesen Opfern entweder zu Tode gefoltert oder einfach erschlagen; im chinesischen Gulag, einem Netz von Straf- und Arbeitslagern, starben während der Hungerjahre von den bis zu neun Millionen Inhaftierten etwa drei Millionen – also ein Drittel.

Aber warum die selbst für chinesische Verhältnisse maßlose Gewalt während der Jahre der Herrschaft Mao Tse-tungs? Dikötter schreibt, dass der jahrelange erbarmungslose Bürgerkrieg und die ständigen Säuberungen die Entstehung einer „Kultur der Gewalt“ in der Kommunistischen Partei begünstigt hätten. Ein Menschenleben, das wiederholt sich in den Schilderungen dieses Buches, zählte im China der Mao-Ära nichts: „Wenn es nicht genug zu essen gibt, verhungern die Menschen. Es ist besser, die Hälfte der Menschen sterben zu lassen, damit die andere Hälfte genug zu essen hat“, war die zynische Reaktion des „Großen Steuermanns“, nachdem er vom Massensterben in den Provinzen unterrichtet worden war.

Das ganze Denken in der chinesischen KP jener Jahre war militärisch ausgerichtet, die gesamte Gesellschaft wurde in einer permanenten Revolution nach militärischen Kriterien organisiert: Volksküchen, Kindergärten, kollektive Unterkünfte, Sturmtrupps, Dorfbewohner als Fußsoldaten, Parteibosse als Militärführer. Gewalt wurde verherrlicht, Verluste an Menschenleben waren selbstverständlich, der Zweck heiligte immer alle Mittel. Und unaufhörlich von oben angeordnet folgte Kampagne auf Kampagne – Bewässerungsprojekte, Düngekampagne, Tiefpflügen, dichte Aussaat, Volkskommunen, nächtliche Produktionsschlachten, erbitterte Kriege gegen Rechtsabweichler, permanenter Kampf für ein China nach den Vorstellungen Maos, niemals eine Ruhepause.

Diese Jahre des „Großen Sprungs nach vorn“, die mit einer kuriosen Stahlkampagne einhergingen, waren vor allem auch Jahre einer unbarmherzigen Schinderei der bäuerlichen Bevölkerung, für deren Befreiung dieRevolution Maos angeblich gemacht worden war. Tatsächlich wurden die Bauern unter Maos Herrschaft zu erbarmungslos ausgebeuteten Sklaven. Wenn sie auf einer der Großbaustellen nicht bei Unfällen umkamen oder an Erschöpfung starben, suchte sie und ihre Familien dann eben der Hungertod heim. Und der ganze Terror nicht zuletzt darum, weil sich Mao 1957 entschlossen hatte, dass China innerhalb von 15 Jahren Großbritannien überholen müsse.

Nein, Mao Tse-tung kommt auch in diesem Buch nicht gut weg: ein kleinlicher, hartherziger, sofort beleidigter, rachsüchtiger, egomanischer Politiker. Aber auch andere Politiker wie Deng Xiaoping oder Zhou Enlai, die sich von Mao in jenen Jahren alles gefallen ließen, erscheinen in Dikötters Studie als keineswegs herausragende Größen – im Gegenteil. Funktionäre, die das Unglück durch Maos „Großen Sprung“ für China kommen sahen und dies auch offen sagten, wie etwa Verteidigungsminister Peng Dehuai oder Vizeaußenminister Zhang Wentian, wurden von Mao und seiner Gefolgschaft nach der Parteisitzung in Lushan im Juli 1959 hinweggefegt.

Auch in Dikötters Buch fehlt ebenso wie in jenem von Yang Jisheng übrigens eine differenzierte Betrachtung dazu, wieso in einigen Provinzen mehr als in anderen gehungert und gestorben wurde. Lag das nur daran, dass manche Provinzen von gemäßigteren Parteichefs und nicht von radikalen Gefolgsleuten Maos regiert wurden? Spielten Umwelteinflüsse eine Rolle dabei? Hatten die Menschen in manchen Provinzen bessere Überlebensstrategien als in anderen? Es wird also weitere Bücher zur großen chinesischen Hungersnot brauchen, um auch diese Fragen zu beantworten. ■

Frank Dikötter

Maos großer Hunger

Massenmord und Menschenexperiment in China (1958 bis 1962). Aus dem
Englischen von Stephan Gebauer.
526 S., geb., € 30,80 (Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2014)

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