Osteuropa: Vom Hantieren in der Giftküche

„Der Geschmack von Asche“: Die US-Historikerin Marci Shore zeigt, dass die totalitäre Geschichte Osteuropas alles andere als vergangen ist.

Wenn man nach einer anregenden Lektüre Ausschau hält, wird man nicht zu allererst nach einem Buch mit dem Titel „Der Geschmack der Asche – Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa“ greifen. Die Zurückhaltung lässt sich nachvollziehen, aber sie ist bedauerlich, denn man bringt sich so um ein Leseerlebnis.

Die junge, in Yale lehrenden US-Historikerin Marci Shore ist Anfang der Neunzigerjahre nach Osteuropa aufgebrochen, um, wie sie schreibt, „eine Geschichte mit einem guten Ende“ zu hören. „Ich wollte die antikommunistischen Dissidenten der Siebziger- und Achtzigerjahre verstehen. Doch dann stellte ich fest“, schreibt Marci Shore, „dass ich immer weiter in der Geschichte zurückgehen musste: Wollte ich die Dissidenten verstehen, musste ich ihre Vorgänger verstehen, marxistische Revisionisten, die einen demokratischen Sozialismus forderten; wollte ich die marxistischen Revisionisten der Sechzigerjahre verstehen, musste ich die Stalinisten der Fünfzigerjahre verstehen; wollte ich den Stalinismus verstehen, musste ich den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust verstehen.“ Nun werden zwar bei den russischen Matrjoschkas die Puppen in den Puppen immer kleiner, und einmal ist bei jeder Matrjoschka Schluss, doch mit der Historie verhält es sich offenbar anders, und in der Beantwortung einer Frage liegt der Stoff für zehn weitere Fragen, und irgendwann braucht man eine Strategie, um die Sache vernünftig zu strukturieren.

Shore hat diese Herausforderung angenommen: Mit Eifer lernt sie Sprachen, reist in die entferntesten Gegenden, immer mit dem Ziel, die Akteure von damals (oder ihre Nachkommen und Biografen) zu fragen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Prag, Krakau, Warschau, Vilnius, Kiew, Bratislava, Bukarest werden besucht, um zu erforschen, was die Geschichte in den letzten 50 Jahren aus den Menschen in Osteuropa gemacht hat.

Das zentrale Thema des Buches aber ist die polnische Nachkriegsgeschichte. Hier gelingt ihr ein beklemmendes Panorama: Sie schreibt ausführlich über Jakub Berman, der nach dem Krieg als Mitglied des Politbüros der polnischen KP für den Sicherheitsapparat zuständig war, seinen Bruder, den Zio-nisten und späteren Knesset-Abgeordneten Adolf Berman und über (die angebliche Stalin-Geliebte) Wanda Wasilewska, die Kontaktfrau der polnischen Linken nach Moskau, deren Ehemann „versehentlich“ von der sowjetischen Geheimpolizei liquidiert wurde.

Das sind Biografien, die in den innersten Kreis der Tragödie des 20. Jahrhunderts führen. Die Fakten sind (der Fachwelt) bekannt, die Einschätzungen naturgemäß widersprüchlich, und die Autorin macht sich nicht zur Apologetin der einen oder anderen Sichtweise. Sie recherchiert und hört zu, sie befragt alle nur immer greifbaren Quellen. Sie liest sich durch die aberwitzigsten Geheimdienstdossiers, und nichts ist ihr zu entlegen.

Marci Shore bringt meisterhaft – und das ist auch das Hauptverdienst des Buches – das Fortwirken dieser Epoche ins Spiel, indem sie den Nachkommen in der zweiten und dritten Generation, den mehr oder weniger berufenen Kritikern und Biografen das Wort erteilt. Das ist eine spannende Lektüre, und es wird nicht zu viel verraten, wenn sich im Lauf der 375 Seiten sehr bald herausstellt, dass hier nicht „eine Geschichte mit einem guten Ende“ erzählt wird. Bestenfalls ein von Enttäuschung, Verzweiflung, Paranoia und so weiter begleiteter Ausklang, der – politisch interpretiert – reichlich Stoff für weitere neue Krisen und Katastrophen liefern wird.

Die Autorin besitzt das Talent, ihre unzähligen Begegnungen in literarische Miniaturen aufzulösen. Das ist es auch, was dieses Buch so lebendig macht, dieses Interesse für das Visavis, diese ansteckende Empathie, diese Lust am Verstehen. Ihre Interviewpartner wird das bezaubert haben, denn wer möchte nicht verstanden werden? Allerdings birgt dieser Wunsch auch Gefahren. Nicht zuletzt die, dass man am Ende noch zu verstehen versucht, was sich dem Verstehen im Grunde eigentlich entziehen sollte.

Shore ist dieser Gefahr nicht erlegen. Das Buch zeigt aber, dass Zeitgeschichtsschreibung immer auch ein Hantieren in der Giftküche bedeutet. Man muss den Untertitel ernst nehmen: „Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa“. Nichts war so irre, dass es nicht gedacht, gewünscht oder gar ins Werk gesetzt wurde, nichts war so nobel wie die Charta 77. Niemand, der dem Recherchemarathon der Autorin folgt, kann nachher noch behaupten, dass das heute schon, wie man so leichthin sagt, Geschichte sei. Mit diesem Buch zeigt Shore, auf welchem (ja, durchaus noch fließenden) Lavastrom das sogenannte europäische Haus erbaut wurde. Ein höchst alarmierender Befund. ■

Marci Shore

Der Geschmack von Asche

Das Nachleben des Totalitarismus in

Osteuropa. Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf. 376S., geb., €27,80
(C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2014)

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