Der heroische Verräter

Radikal. Skeptisch. Ketzerisch. Aus diesen Adjektiven nährt sich der Ruhm Ciorans. Und er gilt als luzider Stilist. Was aber steckt hinter seiner Weltverneinung? Eine Überprüfung anhand zweier Biografien.

Im Oktober 1933 kommt er mit einem Stipendium der Humboldt-Stiftung nach Deutschland. „Ich fühle mich in Berlin sehr wohl und bin von der hier herrschenden Ordnung begeistert“, schreibt er einem daheimgebliebenen Freund. Er sieht, wie die Nationalsozialisten mit Gesetzen und Schlägerbanden ihre Gegner drangsalieren, und jubelt darüber in einem Artikel: „Der Führer-Mystizismus ist voll gerechtfertigt, es ist Hitlers Leistung, dass er den kritischen Geist einer ganzen Nation ausgemerzt hat.“

1936, aus dem Zentrum der neuen Welt nach Hause, an einen der geschichtsverlorenen Ränder Europas zurückgekehrt, veröffentlicht er eine Erweckungsschrift, die seine traurige Nation aus der Lethargie reißen soll und in der er vor „dem Juden“ warnt: „Wir können ihm nicht als Mensch begegnen, weil der Jude zuerst Jude ist und dann ein Mensch.“ Vier Jahre später, als in Bukarest die „Eisernen Garden“ Jagd auf Juden machen und im Blutrausch Monarchisten, Liberale, Sozialisten massakrieren, war er längst das schärfste publizistische Schwert der rumänischen Gardisten. Seine politische Theologie der Macht lautet: „Damit ein Volk sich den Weg in der Welt bahnt, sind alle Mittel gerechtfertigt. Terror, Mord, Bestialität und Heimtücke sind nur im Niedergang kleinlich und unmoralisch, wenn sie jedoch den Aufstieg eines Volkes fördern, sind es Tugenden. Alle Triumphe sind moralisch.“

Der das alles geschrieben hat, rasend vor Begeisterung über die eigene Raserei, gilt heute als Denker von heiliger Nüchternheit, als luzider Stilist, dem jeder Überschwang nur eine Gelegenheit war, diesen zu denunzieren. Seiner weltweiten Gemeinde, die eine namhafte Filiale in Österreich hat, ist er der unbestrittene Weltmeister in der literarischen Disziplin der Bitternis, ein Prophet des Zweifels, der rücksichtslos gegen sich selbst jede Gewissheit in Frage stellte. Sein Ruhm nährt sich auch von der biografischen Legende des weltabgewandten Ketzers, der nicht anders konnte, als jedes Dogma in die ätzende Lauge des Skeptizismus zu tauchen und festzuhalten, wie es sich unter seiner kalten Beobachtung zersetzt. Stellvertretend für uns, die wir diesen Blick nicht wagen, soll er in Büchern wie „Lehre vom Zerfall“, „Die verfehlte Schöpfung“ oder „Vom Nachteil, geboren zu sein“ mutig in die tiefsten Abgründe des Menschen geschaut haben.

War das ein- und derselbe Autor: der nationalistische Aktivist, der eine Diktatur ersehnte, die sein Land aus der Rückständigkeit in eine glänzende Zukunft zwingen werde – und der radikale Weltverneiner, der mit allen Illusionen, den politischen, sozialen, philosophischen und religiösen, aufräumte? Ja und Nein. Der eine hieß Emil Cioran, wurde 1911 als Sohn eines orthodoxen Popen in der Nähe von Sibiu/Hermannstadt geboren und hat in einem schwelgerischen Rumänisch fünf Bücher und zahllose Artikel verfasst, von denen seine Verehrer in Frankreich, Deutschland oder den USA lange gar nichts wussten und noch heute lieber nichts wissen wollten; der andere nannte sich E. M. Cioran, schrieb nach 1945 seine Bücher auf Französisch, in einem meisterlichen, schlackenlosen, an den großen Stilisten des 18. Jahrhunderts geschulten Französisch, und hat bis zu seinem Tod 1995 im Übrigen nur immer so viel von seinen Jugendsünden eingestanden, als ihm gerade wieder nachgewiesen zu werden drohte. „DieVerklärung Rumäniens“, jenen nationalistischen Exzess von 1936, hat er 1990 auf der Höhe seines Ruhmes als kompromissloser Wahrheitssucher noch einmal auflegen lassen und dabei stillschweigend die gegen die Juden und die Ungarn gerichteten Tiraden einfach gestrichen. Bei anderen nennt mandas Verdrängung, Opportunismus, Vertuschung, Cioran aber buchen es seine Bewunderer als Verwerfung der eigenen Irrtümer gut.

Zwei Biografien des Mannes, der als hitziger Nationalist begann und in Kälten abgeklärter Pessimist zum Mythos wurde, versuchen mit dem Problem fertig zu werden, das Cioran jenen aufgibt, die seine faschistischen Sympathien nicht teilen und sein Werkdoch als Leuchtturm schätzen, an dem sie sich in der Düsternis der Epoche orientieren können. Für den französischen Publizisten Patrice Bollon, der seine Biografie schlicht „Der Ketzer“ betitelt, ist alles, was Cioran nach 1945 geschrieben hat, Teil einer geglückten Selbstheilung des Autors, eine fortwährende, schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Verblendung, ein einzigartiges Beispiel dafür, wie jemand „wider sich selbst zu denken“ gelernt hat.

Die entscheidende Wende vollzieht Cioran für Bollon 1947, als er, der während des Krieges als Stipendiat ins besetzte Paris gekommen war, beschließt, nicht ins kommunistisch gewordene Rumänien zurückzukehren, sondern in Frankreich zu bleiben und die Sprache zu wechseln. Der Wechsel der Sprache bedeutet für Cioran, dass er zu seiner Literatursprache künftig ein distanziertes, kühles Verhältnis unterhalten wird. Tatsächlich wird er zu einem der brillantesten Stilisten der französischen Literatur werden, und das ausgerechnet in der subtilen Gattung des Aphorismus, des Epigramms, der Maximen und Reflexionen.

Das Französische bleibt ihm jedoch die erworbene Sprache, in der er niemals jene natürliche Sicherheit haben wird wie im Rumänischen. Für einen Charakter, der stets von seinen Stimmungen mitgerissen zu werden droht, war dieser Wechsel ein Akt der Selbstdisziplinierung. Nur so, dies die zentrale These Bollons, konnte es Cioran gelingen, in seinen französischen Büchern das rumänische Jugendwerk vollständig zurückzunehmen und sich schreibend lebenslang selbst den Prozess zu machen. Cioran war Mitte dreißig, als er die Sprache wechselte, und er war sich völlig im Klaren, dass dies ein lebenswendender Entschluss war: „Wer seine Sprache verleugnet und eine andere annimmt“, schrieb er 1956 in der „Tentation d'exister“ (deutsch „Dasein als Versuchung“), „verändert seine Identität, ja sogar seine Enttäuschungen. Als heroischer Verräter bricht er mit seinen Erinnerungen und in gewissem Grad mit sich selbst.“

Die zweite Biografie hat der deutsche Essayist Bernd Mattheus verfasst und als „Porträt eines radikalen Skeptikers“ angelegt. Mattheus ist Cioran auch persönlich nahe gestanden, hat ein Buch von ihm, „Gevierteilt“, ins Deutsche übersetzt und selber Notate veröffentlicht, die Ciorans Denken aufnehmen und eigenständig fortentwickeln. In einem anregenden wie irritierenden Buch fasst er Cioran mitunter ganz aus der Nähe, mit wenig schmeichelhaften Zügen. Der Mann, der die Ehe für nichtig erklärte, hat jahrzehntelang mit einer Frau zusammengelebt, die sich freilich, wenn Besuch kam, nicht blicken lassen durfte.

Der Autor, der sich zum ewigen Einzel- und Alleingänger stilisierte, kannte in Wahrheit in Paris jede Menge Leute aus der guten Gesellschaft und dem Kulturbetrieb. Der Zuwanderer hat sich gewohnheitsmäßig über die Afrikaner auf den Pariser Straßen echauffiert und vor der „Überfremdung“ Frankreichs gewarnt; als er wenige Jahre vor seinem Tod von François Mitterrand zur gepflegten Unterhaltung in den Regierungspalast eingeladen wurde, sagte er ab, ließ aber bestellen, der Präsident möge endlich die Grenzen Frankreichs schließen lassen. Diese zweite Biografie ist merkwürdig, weil Mattheus von Cioran zwar lauter solche Anekdoten zu berichten hat, der Mann des Ressentiments und elitären Dünkels aber für ihn dennoch die unangefochtene Autorität bleibt, was die Deutung des modernen Lebens, nein, der menschlichen Existenz selber anbelangt. Bollon sieht Ciorans Werk durch eine scharfe Zäsur, durch den Wechsel der Sprache geteilt. Mattheus kommt der Sache wohl näher, wenn er die inneren Zusammenhänge aller Schriften Ciorans hervorhebt. Er tut das offenbar in der Überzeugung, dass die politische Verstrickung Ciorans seinem künstlerischen und philosophischen Werk nichts anhaben konnte.

Bollon hingegen zitiert dessen nach 1945 verfasste Schriften ausdrücklich als Zeugnis dafür, dass Cioran auf bewundernswerte Weise aus der Enge seines frühen in die Freiheit seines späten Werks gefunden habe.

Der politisch verführte Verführer

Tatsächlich hat dieser nach 1945 kein antisemitisches Wort mehr vernehmen lassen. Aber was für eine Läuterung ist das, wenn er nun die Juden, die er vordem nicht als Menschen wahrzunehmen empfahl, gar nicht genug dafür preisen kann, dass sie ein großartiges „Volk von Einzelgängern“ bildeten und die wahren „Meister der Existenz“ wären? Was ist das für eine Selbstkritik, wenn er von den Deutschen, die er bewunderte, solange der Nationalsozialismus siegreich war, nach dessen totaler Niederlage behauptet, sie seien allesamt „äußerst starrköpfige, mittelmäßige Menschen“, bei denen ihn nur wundere, wie er selbst einst „einer im Grunde so wenig interessanten Nation einen Kult“ widmen hatte können? Und das soll eine glaubwürdige Distanzierung sein, dass der politisch verführte Verführer, der die Rettung des Vaterlandes aus der tiefen Schmach der welthistorischen Bedeutungslosigkeit durch eine Terrororganisation predigte, post festum postuliert: „Alles Unglück im Leben rührt von der Teilnahme an irgendwelchen Gruppen her.“ An irgendwelchen? Der es einst mit den Eisernen Garden gehalten hat, die auf Pogrom aus waren, belehrt uns nun, dass die Geschichte gar nichts anderes sein könne als die „Raserei von Horden“. Sehr radikal, und sehr bequem; eine Art von radikaler Bequemlichkeit.

Die Bücher von Cioran bieten faszinierende Lektüre. Stil ist bei diesem Autor alles. Wo Erkenntnis aufblitzt, verdankt sie sich seinem Stil, der Gegensätze in ein- und demselben Satz zuspitzt, Paradoxien geradezu ausspreizt, nicht aber der Substanz der Gedanken. Was aber denken sich Leser von heute, wenn sie auf solche Sätze stoßen: „Ei- ner, der zu schwach ist, um dem Menschen den Krieg zu erklären, sollte nie vergessen, für das Hereinbrechen einer zweiten Sintflut zu beten, die radikaler sein müsste als die erste.“ Denken sie, dass das geistreich ist, oder elegant formuliert, oder dass dieser grimmige Cioran sich wirklich sehr weit von seinen faschistischen Anfängen entfernt hat? „In dieser vollkommenen Einsamkeit dachte ich mehr als einmal an die Wonne in der Folge eines atomaren Kriegs: endlich die Erde ohne Menschen!“

Natürlich, wer das Wesen der Kritik in der Übertrumpfung sieht, der wird sich von solchen Entvölkerungsträumen gerne überwältigen lassen. Man verstehe den Fortschritt, die Erde soll nicht mehr von den Juden, sondern den Menschen gesäubert werden! „Was ich am meisten hasse, ist die Gegenwart des Menschen. Diese Parade hässlicher, degenerierter, verkrüppelter Leute raubt einem jeden Lebenswillen. Vollgefressener Abfall.“

Spricht hier der Ketzer oder der Skeptiker? Nein, aus dem alten spricht der junge Cioran, dessen vulgärer Antisemitismus sich zur elitären Menschenverachtung veredelt hat: Nicht mehr der Jude allein, „der Mensch muss verschwinden“, denn er ist nichts anderes als der „Krebs der Erde“, der entfernt werden muss. ■



Bernd Mattheus
Cioran
Porträt eines rasenden Skeptikers. 448S., geb., €29,80 (Matthes & Seitz Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2007)

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