Ödipus als Hooligan

In seinem Roman „Die Movo-Tapes“ gilt A. F. Th. van der Heijdens Interesse der Müllhalde des Lebens – wobei er vorzugsweise nach Ungenießbarem stierlt und das zu einem raffiniert monströsen Ragout komponiert.

Ich lese normalerweise Texte, die mit „Ich“ beginnen, nicht weiter. Ich-AG bin ich selber, was interessieren mich andere. Doch van der Heijden macht diesen Einwand mit dem ersten Satz zunichte: „Ich kann mich Ihnen nicht mal richtig vorstellen, denn ich habe meinen Namen verhökert.“

Der so spricht, behauptet, Apollo zu sein, ein übrig gebliebener Gott aus der Großfamilie Zeus. Womöglich ist er ein Scharlatan, der sich im Mythos auskennt, aber naturgemäß alle Verwandten aus den Augen verloren hat, was bei der in der Mythologie als unumstößliche Gewissheit geltenden Unsterblichkeit der griechischen Götter ziemlich fragwürdig ist. Als lonesome rider beansprucht er, das Weltunheil des vorigen Jahrhunderts ausgelöst zu haben: „Zwei heiße Weltkriege, danach noch ein kalter. Pilze über Japan, Pillen in Marilyn Monroe, Blei in den Gebrüdern Kennedy.“ Auf dem Weg vom Altgriechischen übers Amerikanische ins Niederländische und von dort – wie es heißt: kongenial – von Helga van Beuningen ins adäquat schnoddrige Deutsch übersetzt (kapiert, Jungs?), ist ihm auch schon einmal eine Metapher verrutscht. So, wenn er den Eisernen Vorhang zum Fallen bringt. Für die Berliner Mauer würde der Vorgang zutreffen; wenn aber ein eiserner Vorhang fällt, den es im Amphitheater noch nicht gab, der eine feuerverhütende Maßnahme der Theaterhäuser späterer Jahrhunderte ist, dann ist er zu, selbst wenn ein angeblicher Gott das Gegenteil damit meint.

Übrigens darf er seinen Namen deshalb nicht mehr führen, weil er ihn an die Nasa verkauft hat, als die einen klingenden Namen für ihre Weltraumraketen suchte. Auch dies ein juristisch anfechtbarer Tatbestand, den die gewieft spitzfindigen amerikanischen Juristen übersehen haben. Denn seit die Götter als tot gelten, ist auch ihr Namensrecht verfallen. Wenn das nicht so wäre, stünden bei göttlichen Namensträgern, von Spitälern bis zu Reinigungsmitteln, Nachforderungen in astronomischer Höhe ins Haus. Apoll jedenfalls hat die Prüfung von Historikern, Theologen und FBI-Kleiderschranktypen bestanden und durfte für seinen Namen kassieren. Wenn es sich also wirklich um den gewissen Gott des Lichts handeln sollte, so ist er von seinem Widersacher Dionysos, als dessen Ghostwriter man sich van der Heijden vorstellen darf, gründlich entmachtet worden. Er verfügt nicht mehr über göttliche Privilegien, wie die Benutzung des Sonnenwagens, sondern muss mühevoll auf irdische Beförderungsmittel vertrauen. Zudem befindet er sich nach dem Einstellen der Apollo-Missionen in Geldnöten, hält sich mit Horoskopen über Wasser und – etwas einträglicher – als Standbildfotograf bei Pornofilmproduktionen, Pardon: bei Erzeugnissen der „physischen Unterhaltungsindustrie“.

In einem zweiten Handlungsstrang wird ein junger Mann eingeführt, der nicht er selbst sein will, sondern ein ganz anderer. Notgeboren bei einem Autounfall, leidet TibboltSatink unter Klumpfüßen und versucht, auf sinnlosen Irrfahrten auf niederländischen Autobahnen so lange Tonkassetten vollzulabern, bis er sich zu Movo (kommt von moeilijke voeten, das heißt „problematische Füße“) hochgeredet hat, einem niederträchtigen Ödipus, der die Hooligans von Adam und Erdam, also von „Ajax“ und „Feyenoord“ aufeinanderhetzt. Denn es gilt, Revanche zu nehmen für die Schlacht vom 23. März 1997, in der ein Amsterdamer Fan das Leben lassen musste.

Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden, der zwischen 1983 und 1996 schon den siebenbändigen Zyklus „Die zahnlose Zeit“ publiziert hat, beginnt also mit „Die Movo-Tapes“ einen neuen Zyklus, dessen Titel er bei Alphonse Daudet gefunden hat: „Homo duplex“. Die Handlung springt zwischen den ersten Apollo-Flügen, der Mondlandung 1969 und der Geburt der handelnden Personen im November 1973, die inzwischen alle wie der ewig junge Apoll um die 24 sind, wenn es 1997 weitergeht. Die Details aus dem Leben von pflegebedürftigen Aristos, Kleinbürgern, Buchhändlern und Outcasts dürften nachvollziehbar sein; bedenklich wird es erst, wenn der Autor sich ins Jahr 2024 begibt (womöglich hat er vor, dann, 73-jährig, den Zyklus zu beenden) und Apoll sich die veralteten Movo-Tapes auf CDs pressen lässt, ein Verfahren, dessen Ablaufdatum schon heute fast verstrichen ist.

Das Interesse des Autors gilt der Müllhalde des Lebens, wobei er vorzugsweise nach Ungenießbarem stierlt und das zu einem staunenswert raffiniert monströsen Ragout komponiert. Das hat ihm gelegentlich schon den Titel eines „Proust beziehungsweise Joyce der Niederlande“ eingetragen.

Und für wen ist es geschrieben? Nicht für Hooligans? Die lesen nicht. Eher für Pornokonsumenten, die an einem „Making of“ interessiert sind. Aber die finden nur unbefriedigende Anregungen. – Oder für die Gebildeten, die noch wissen, wo die alten Götter wohnten? Für die verrät Apoll ein paar neue Details, die bisher den Mythologen nicht bekannt waren, die Entstehung von Delphi etwa: Zeus schickte gleichzeitig von beiden Enden der Welt je einen Adler los. Wo die beiden in der Mitte zusammenprallten und so ein Tier mit zwei Köpfen bildeten, dort baute Apoll seinen Orakeltempel.

Die, die hinter dem Ödipusthema Psychoanalytisches wittern, werden mit einer therapeutischen These abgefertigt. Movos Psychiater hat sich ein Experiment ausgedacht: den Sandwichinzest. Movo (recte Tibbolt Satink) vögelt seine Mutter beziehungsweise das, was von ihr nach dem Totalschaden übrig geblieben ist, und wird seinerseits von seinem Vater penetriert. Der Vorschlag wird allerdings (in diesem Band noch) nicht in die Tat umgesetzt.

Auf sparsame Weise können sich die Liebhaber sprachlicher Finessen ergötzen: So fragt sich Apoll mit Recht, warum die Menschen so spät das Rad erfunden haben, wo sie doch mit den Pupillen „eine Blaupause des Rads im Gesicht“ tragen. Am ehesten ist der Roman für Connaisseurs des niederländischen Straßennetzes brauchbar. Sie werden ausführlich über falsche Abfahrten von der Autobahn und deren Korrektur unterrichtet.

Van der Heijdens Erzähltheorie, sie wurde im Barock vom Österreicher Johann Beer erfunden: Alles ist erzählbar. Das erfundene Scheußliche ebenso wie das real Abscheuliche, das abstrus Fiktive ebenso wie das dilettantisch Wirkliche. Der Autor geht verschwenderisch mit seinem Material um, von dem er weiß, dass er viele Augenblicke damit vergeudet, das Jetzt darzustellen, das im Nu vorbei ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2007)

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