„Signorina, Sie müssen hier raus“

John Cage schrieb für sie seine „Etudes Australes“ und wurde ihr Schachpartner. Jetzt erinnert eine Biografie an das aufregende Leben der Pianistin Grete Sultan.

Für Alfred Brendel, der das Vorwort zu diesem sorgfältig recherchierten und uneitel erzählten Buch beisteuerte, war sie eine „bedeutende Pianistin“, für Claudio Arrau eine „wahre Künstlerin und ein Mensch von hoher Intelligenz“. Ihr zeitweiliger Lehrer Edwin Fischer schwärmte: „Wenn sie spielt, empfiehlt sie sich selbst.“ Die Rede ist von Grete Sultan, einer fast in der Vergessenheit geratenen Künstlerin. „Rebellische Pianistin“ nennt sie der Buchautor, ein Berliner Kinderarzt, der durch Zufall auf ihre Fährte gestoßen ist.

2000 erwarb er eine historische Einspielung von Bachs Goldberg-Variationen mit Grete Sultan von 1959, gekoppelt mit Werken von Schönberg, Debussy und Cage. Alleine diese Zusammenstellung erweckte seine Neugier, erst recht die Ausführungen im Booklet mit dem darin skizzierten Lebensschicksal der Interpretin. Alltäglich ist es nicht, dass sich ein Mädchen mit zehn Jahren mit Schönbergs Klavierstücken Opus 11 auseinandersetzt, zwei Jahre darauf Beethovens letzte Klaviersonate einstudiert, sich ein Dezennium später dem Publikum mit Beethovens Hammerklavier-Sonate vorstellt, die sie zusammen mit den Diabelli-Variationen und Bachs Goldberg-Variationen zeitlebens begleiten sollte.

1906 geboren, wächst Grete Sultan in der großbürgerlichen Atmosphäre eines wohlhabenden jüdischen Spirtuosenfabrikanten in Berlin auf. Musizieren gehörte zur Selbstverständlichkeit der großen Familie. Richard Strauss und Ferruccio Busoni zählten zu den regelmäßigen Gästen. Grete ist fasziniert vomOrgelspiel, das sie sich selbst beibringt. Mit neun Jahren hört sie die Goldberg-Variationen in einem Hauskonzert der Witwe des Dirigenten Hans von Bülow. 1936 wird sie hier mit dem Cellisten Enrico Mainardi auftreten. Zu den Zuhörern zählt auch Arturo Toscanini. „Signorina, Sie müssen hier raus“, sagt er zu ihr. Konzertreisen nach Italien sollen sie aus dem für Juden längst unsicher gewordenen Deutschland wegführen. Nur mehr der Jüdische Kulturbund kann ihr ein Podium bieten, die Familie zerfällt.

Ihr Bruder Wolfgang scheidet aus dem Leben. Die NS-Rassengesetze verbieten die Heirat mit seiner nichtjüdischen Freundin Marianne, die wenig später ebenfalls Selbstmord begeht. Ihr Vater wird am Tag der Ausreise in die Schweiz sterben, ihr Onkel Georg, ein renommierter Berliner Chirurg, sich das Leben nehmen, ihre Halbschwester Claere Guttsmann in Auschwitz umkommen. Das erfährt sie alles in ihrer neuen Heimat, den USA, wohin sie gerade noch rechtzeitig im Mai 1941 über Portugal emigrieren kann. Die Dichterin Vera Lachmann, eine Jugendfreundin, kann ihr eine Anstellung als Klavierlehrerin verschaffen. Im Oktober stellt sie sich in Amerika mit den Goldberg-Variationen vor. „Gut geglückt“ sei ihr die Aufführung, berichtet sie ihrer in der Schweiz lebenden Mutter, die sie an ihrem Lebensabend zu sich nach New York nehmen wird.

Durch ihren einstigen Berliner Klavierlehrer, den Amerikaner Richard Buhlig, lernt Sultan 1946 den Komponisten John Cage kennen. Rasch wird aus dieser Bekanntschafteine Freundschaft, die Cage, seit Jahren mit dem Tänzer Merce Cunningham liiert, sogar fragen lässt, ob Grete seine Frau werden möchte. Sie lehnt ab, der engen Beziehung tut dies keinen Abbruch. Seit ihrer Jugend gewohnt, sich mit zeitgenössischer Musik zu beschäftigen, nimmt Grete einiges von Cage in ihr Repertoire auf, reist mit ihm zu Festivals, spielt mit ihm täglich Schach, inspiriert ihn zu einem seiner komplexesten Werke: den durch Karten des australischen Himmels inspirierten „Etudes Australes“.

„Die klassische Musik strebt einem Ziel entgegen, während man bei der modernen Musik das Ziel bereits in sich trägt – Grete hat beides“, zeigt sich Cage von der Universalität seiner Muse begeistert. Sein Tod im August 1992 trifft die 86-Jährige schwer. Mit 90 Jahren rafft sie sich noch einmal auf, mit den Goldberg-Variationen, die sie zuletzt vor 25 Jahren öffentlich gespielt hat, aufzutreten. Auch diesmal berichten Zuhörer von einem „außerordentlichen Ereignis“. Bis zuletzt spielt sie die Aria dieser Variationen. Knapp vor ihrem 99. Geburtstag wird sie ins St. Vincent Hospital eingeliefert, wenige Tage danach stirbt sie. Mit Musik, die ihr Leben begleitet hat, wird sie verabschiedet: Bach, Beethoven,Schubert, Schönberg – und John Cage. ■

Moritz von Bredow

Rebellische Pianistin

Das Leben der Grete Sultan zwischen Berlin und New York. 320 S., geb., € 31,10 (Schott Music Verlag, Mainz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2014)

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