Stalinist, Libertin, Trickser?

Ryszard Kapuścińskis Einzigartigkeit als Reporter machte nicht nur sein schreiberisches Können aus, sondern sein außergewöhn-licher Scharfblick für politische und gesellschaftliche Prozesse. Sein Biograf Artur Domosławski legt das Schwergewicht jedoch auf die menschlichen Schwächen.

Bereits gut drei Jahre nach dem Tod des polnischen Starreporters Ryszard Kapuściński erschien 2010 in seiner Heimat eine Biografie. Und was für eine! Inzwischen ins Deutsche übersetzt, umfasst sie nahezu 700 Seiten. Der Wirbel vor vier Jahren war groß, als das Werk des Journalisten Artur Domosławski von der führenden polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ über seinen früheren Mentor (so behauptet der Biograf jedenfalls selbst) erschien.

Warum eigentlich? Der Jahrhundertreporter Kapuściński soll Liebschaften und ein schwieriges Verhältnis zu seiner exzentrischen Tochter gehabt haben: Und? (Nur, gehört so etwas überhaupt in einer Biografie groß aufbereitet?) Er soll in seiner Jugendzeit ein Stalinist gewesen sein: Universitätslehrer und Förderer Kapuścińskis waren in den 1950er-Jahren ebenfalls – zumindest – Kommunisten: die bedeutenden Historiker und Solidarność-Chronisten und -Aktivisten Bronisław Geremek und Jerzy Holzer oder der Ausnahmephilosoph und spätere Großkritiker des Marxismus, Leszek Kołakowski. Der damalige Zeitgeist in der jungen Generation Polens wehte links, weil der Kommunismus die viel schrecklichere Ideologie des Nationalsozialismus niedergerungen hatte.

Kapuściński soll eine Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst Polens eingegangen sein. Aber – und Domosławski schreibt dies selbst – jeder polnische Journalist, der in den 1950er-, 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren in die Dritte Welt oder ins westliche Ausland gereist ist, wurde um Berichte und Informationen gebeten beziehungsweise dazu genötigt. Kapuściński drückte sich, wo er nur konnte, von der Mitarbeit beim Geheimdienst – und da er beste Beziehungen zur Parteispitze hatte, war ihm das auch leichter möglich als anderen. Ein früherer Geheimdienstoffizier jedenfalls bewertet die von Kapuściński gelieferten Informationen im Nachhinein als „Müll“.

Kapuściński soll eine Gefangenschaft seines Vaters in sowjetischer Hand ebenso vorgetäuscht haben wie eine Beinahe-Erschießung durch belgische Fallschirmjäger im Kongo; überhaupt soll er an seiner eigenen Legende gestrickt haben, schreibt Domosławski. Legendenstricken – macht das nicht auch der Biograf selbst, indem er seine Scheinwerfer gezielt in bestimmte Ecken von Kapuścińskis Leben richtet? Vielleicht hätte sich Domosławski die kluge Beobachtung derpolnischen Topjournalistin Teresa Torońska zu Herzen nehmen sollen, die er in seinem Buch mit den Worten zitiert: „Die menschliche Erinnerung ist selektiv, sie entledigt sich der Dinge, die wehtun, und bewahrt das, was das Leben einfacher macht.“

Und ja, Kapuściński hat in seinen „literarischen Reportagen“, wie er sein Schaffen charakterisiert, „getrickst“. Journalisten können endlos darüber streiten, wie weit ein Reporter gehen kann und darf, wie exakt er die Wahrheit beschreiben muss. Halten wir uns doch an den großen deutschen Publizisten Sebastian Haffner, der stets betont hat: Journalismus ist Zuspitzung. Nichts anderes hat auch Kapuściński getan. Er hat seine Texte zugespitzt – und zwar dermaßen, dass einige der weltweit herausragenden journalistischen Meisterstücke des 20.Jahrhunderts entstanden sind: sein Buch über Haile Selassie („König der Könige“), über den Schah, über den Bürgerkrieg in Angola oder über das dem Untergang entgegentrottende sowjetische Imperium.

Ob Kapuściński wirklich so unglücklich mit seiner Rolle als Journalist war und viel lieber als Schriftsteller gegolten hätte, wie Domosławski an mehreren Stellen behauptet, mag stimmen oder auch nicht.

Politischer Scharfblick

Kapuścińskis Einzigartigkeit als Reporter war ja nicht nur sein schreiberisches Können, sondern sein außergewöhnlicher Scharfblickfür politische und gesellschaftliche Prozesse. Er solle doch bitte herausfinden, gab der US-Publizist und Journalismus-Professor Mark Danner dem Biografen Domosławski mit auf den Weg, „welche Erlebnisse von Ryszard dazu führten, dass er so hervorragend die Mechanismen der Macht und der Revolution durchschaute“. Darüber hätte man wirklich gern mehr von seinem Biografen erfahren. Nur auf seine Kindheit im ärmlichen ostpolnischen Pinsk und seine Erfahrungen mit totalitärer Herrschaft hinzuweisen ist ein bisschen spärlich.

Dabei ist es keine Frage, dass Domosławski ungeheuer fleißig recherchiert, mit sehr vielen Leuten über Kapuściński gesprochen hat – die Beschreibungen von Botschafter Jerzy Nowak und seiner Frau, Isabella, sowie von Ex-Außenminister Adam Daniel Rotfeld leuchten da besonders heraus – und an zahlreiche Orte des Wirkens und Schaffens Kapuścińskis gereist ist. Domosławski hat sich wirklich viel angetan, und man erfährt viel über seinen Protagonisten. Selbst Textvergleiche der Berichte Kapuścińskis und eines „New York Times“-Korrespondenten aus Angola vergleicht er hin auf Fakten und Sprache. Und doch fragt man sich bei der Lektüre dieser Biografie immer wieder: Wäre weniger nicht mehr gewesen? Denn das Buch hat etliche Längen.

Hingegen geht Domosławski beispielsweise überhaupt nicht darauf ein, dass Kapuściński auch ein talentierter Fotograf war. Er berichtet zwar lang und breit darüber, wie Kapuściński sich eine getreue Leserschaft in Italien, Spanien, Schweden, Mexiko und letztlich auch in den USA erschrieben hat, doch über die Erfolge des Reporters in der deutschsprachigen Welt, die vermutlich erst seinen internationalen Durchbruch gebracht haben, vernimmt man überhaupt nichts.

Aber für Domosławski zählt offenbar nur Amerika. Wobei er die seltsame, ja eigentlich dumme Bemerkung hinzufügt, dass die Popularität Kapuścińskis in den USA nie „Massencharakter“ gehabt und sich auf die intellektuelle Elite beschränkt hätte: „Ist er deshalb nicht wegweisend für die amerikanischen Journalisten?“ Wo, außer vielleicht in Polen, hatten die Werke Kapuścińskis denn „Massencharakter“? Überall in der Welt sprachen seine „literarischen Reportagen“ in erster Linie intellektuelle Kreise an.

Es ist wirklich so, wie der Kapuściński-Übersetzer ins Deutsche, Martin Pollack, geschrieben hat: Bei Domosławski hat man den Eindruck, dass der Biograf ständig nach Haaren in der Suppe sucht, um an der Reporterlegende Kapuściński kratzen zu können. Dabei stimmt gewiss, dass dieser seine Schattenseiten hatte, die er im späteren Leben zu vertuschen suchte. Schwächen, Unzulänglichkeiten eben, wie sie jeder Mensch hat und wie sie auch in eine Lebensbeschreibung gehören. Die Frage ist aber, wie grell man diese präsentiert. Domosławski hätte wohl besser mit der Veröffentlichung seiner Arbeit zugewartet, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen sollen und den Text gestrafft. Dann hätte es vielleicht eine wirklich gute Biografie werden können. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2014)

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