Viele Sträuße mit Strauß

Die polarisierende Atmosphäre rund um Jürgen Habermas ist ein zentrales Thema in Stefan Müller- Doohms voluminöser Biografie über Deutschlands berühmtesten Soziologen. Ausgespart bleibt darin weitgehend Biografisches über den 85-Jährigen.

Den „Hegel der Bundesrepublik“ hat man ihn genannt, den „Projektleiter der Moderne“ und die „Macht am Main“, was die Hamburger „Zeit“ aus Anlass seines 80.Geburtstags im Titel gar durch „Weltmacht Habermas“ überboten hat. Außer Zweifel steht, dass sich kein lebender Philosoph und Soziologe einer derartigen Zahl von Ehrungen und hoch dotierten Preisen rühmen kann. Doch ungeachtet der unzähligen Schlagworte, für die er verantwortlich zeichnet und die in die Umgangssprache eingegangen sind – vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ über das „Erkenntnisinteresse“ bis zum „herrschaftsfreien Diskurs“ –, hat auch seine viel gerühmte „Theorie des kommunikativen Handelns“ keine Schule begründet. Was am Ende des Tages bleiben wird, ist ungewiss. Das Gesamtwerk ist riesig: etwa 70 Monografien, Aufsatzsammlungen und herausgegebene Bücher, unzählige Essays, Artikel zu Tagesfragen, Reden und Interviews. Es gibt ein „System Habermas“, dessen Namensgeber Philosoph, Soziologe, Theoretiker der Moderne, Tagespublizist, gelegentlicher politischer Akteur und – was manchmal übersehen wird – ein äußerst einflussreicher Verlagspolitiker im Umfeld der Suhrkamp-Kultur ist.

Doch wer ist der Mann? Stefan Müller-Doohm, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Oldenburg und Verfasser einer Biografie über Adorno, nennt seine fast 800-seitige Monografie zu Habermas eine „Biografie“. Im Vorwort wehrt er sich dagegen, eine Denk- oder Werkbiografie verfasst zu haben, und beruft sich auf die soziologische Methode seiner Arbeit, die die Denkbewegung des Biografierten im Wechselspiel mit der gesellschaftlichen Entwicklung und den öffentlichen Reaktionen nachzeichnet. Man muss dem Autor zugutehalten, dass er sich zur Privatsphäre von Habermas wenig äußert. Diese scheint im Vergleich zur Werk- und Wirksphäre offensichtlich recht ereignisarm gewesen zu sein. Dennoch gibt es gewisse Dinge, auf die das Publikum unter dem Etikett „Biografie“ Anspruch hat, ohne sich gleich als Voyeur fühlen zu müssen – etwa die Kulturbeziehung des Biografierten. Wenn wir davon absehen, dass er sich einmal mit Heinrich Heine beschäftigt hat (was liest Jürgen Habermas: Krimis, Beckett, Thomas Pynchon?), hat das voluminöse selbst verfasste Werk seinen Kulturbezug völlig absorbiert? Oder sind die Diskretionsregeln rund um Habermas so streng, dass hier schon die schützenswerte Intimsphäre beginnt?

Anlässlich einer Ausstellung zu Habermas' 80.Geburtstag hat der Kurator tatsächlich von einer „verweigerten Biografie“ gesprochen. Manches ist dennoch evident – der quälende Sprachdefekt, von dem Habermas einmal meinte, er hätte ihn moralisch gegen Ausgrenzungen sensibilisiert und ihn vor allem die Wichtigkeit von Sprache und herrschaftsfreier Kommunikation gelehrt. Evident ist auch die NSDAP-Mitgliedschaft des Vaters, wesentlicher Bestandteil des „Eigenen“ jener Generation, die es „besser machen“ wollte.

„Gute“ Deutsche also, die die nachfolgende Generation gelegentlich nervten: In einer Polemik gegen Habermas hat Peter Sloterdijk diesen zu den „hypermoralischen Söhnen von nationalsozialistischen Vätern“ gezählt. Gerade weil Habermas gelegentlich vor der Faschismuskeule warnte, traf es besonders, wenn er sie schwang – ob in der Variante „linker Faschismus“, ob in seiner „Frage an Rudi Dutschke“ oder wenn er argwöhnte, Franz Josef Strauß wolle, „nachdem Spanien endlich eines Franco ledig war, die Bundesrepublik francoisieren“.

Die polarisierende Atmosphäre rund um Habermas, ein zentrales Thema in Müller-Doohms Arbeit, erschließt sich, wenn man liest, dass Strauß diesen im Gegenzug einen „Sturmvogel der Kulturrevolution“ nannte. Der Ton war rau in den Zeiten des Kalten Krieges, der Studentenbewegung und der RAF, es gab Berufsverbote, und kritische Intellektuelle wurden gern in die Nähe des Terrors gerückt. Auch Habermas hat einige Blessuren davongetragen – so wurde etwa dem Direktor des Max-Planck-Institutes am Starnberger See zweimal eine arbeitstechnisch funktionale Honorarprofessur an der Münchener Universität verweigert, was er mit seinem Rücktritt 1981 quittierte.

Wenn es auch in der Philosophie keine Schule gibt, so gibt es doch im rot-grünen Milieu eine Achse rund um die tagespolitischen Interventionen des „undogmatischen Linken“ und „radikalen Reformisten“ Habermas. Doohms Biografie kann in den entsprechenden Teilen als Mentalitätsgeschichte dieses Milieus gelesen werden: Da wird für die „Ressource Solidarität“ plädiert, jede Abschiebung eines Asylwerbers zur „beunruhigenden Frage an die Bürger des Westens“ erklärt, und 9/11 im Zusammenhang mit der „aufreizend banalisierenden Unwiderstehlichkeit einer materialistisch einebnenden Konsumgüterkultur“ gesehen, ebenso wie die „Ausbrüche religiöser Gewalt“ im Kontext der „Wut über empörende Ungerechtigkeit“. Angela Merkel steht hier für Machtopportunismus, Peer Steinbrück für verantwortungsbewusste Zukunftsorientiertheit.

So kann man das voluminöse Buch als Einstieg in den „ganzen“ Habermas nützen. Das gilt für die Fachkapitel, die seinen Weg von der Schelling gewidmeten Dissertation zu Adorno, Marcuse und einer eigenwilligen Marx-Interpretation im Kontext der „Kritischen Theorie“ bis zur „linguistischen Wende“ nachzeichnen, das gilt vor allem für die ausgezeichnete Zusammenfassung zur „Philosophie in der nachmetaphysischen Moderne“, die die Begegnung mit einem Denker erleichtert, der seine Texte auf hohem Abstraktionsniveau ansiedelt. Und das gilt auch für die manchmal redundanten Kürzestfassungen von Habermas' Vorträgen. ■

Stefan Müller-Doohm

Jürgen Habermas

Eine Biografie. 784S., geb., €30,80
(Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2014)

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