Leben, das sich auslebt

Der Mensch nach dem Menschen? Wissenschaftler in herkömmlicher Gestalt überbieten sich publizistisch in neumenschlichen Inszenierungen. Ihr Ziel: Das bisherige Subjekt der Geisteswissenschaften soll für tot erklärt werden. Eine kritische Betrachtung – aus Anlass eines Buches der Philosophin Rosi Braidotti.

Legen wir die Karten gleich auf den Tisch. Ich habe für den Humanismus oder die darin enthaltene Idee des Menschlichen nicht viel übrig“, sagt die Italo-Australierin Rosi Braidotti, prominente Posthumanistin, gleich zu Beginn ihres Buches „Posthumanismus“. Also legen wir die Karten auf den Tisch: Ich habe etwas übrig für die humanistische Idee des Menschlichen.

Braidotti zu lesen – sie lehrt an der Universität Utrecht –, heißt vor allem, etwas über das Elend der Geisteswissenschaften zu erfahren. Dass diese nichts mehr wesentlich Neues zu sagen haben, ist ein Verdacht, den man spätestens seit den 1960er-Jahren hegt. Damals wurden die politisierten „humanities“ noch einmal gründlich durchgerüttelt – sie wurden, wenn schon nicht mit einer großen Idee, so doch mit visionärem Elan betrieben. Seither leben wir im Zeitalter der Postmoderne, jenseits religiöser und geschichtlicher Heilsversprechen; wir leben in einer Zeit der „kleinen Erzählungen“, der kulturellen Patchworks und des begrifflichen Bric-à-brac.

Der Denkavantgarde gilt jene Epochenschwelle, die wir mit den historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts angeblich überschritten haben, nicht bloß als Beginn einer neuen Ära. Nein, der Mensch selbst soll eine grundlegende Wandlung erfahren, hin zu einem neuen – posthumanen – Wesen. Deshalb trifft man in der Philosophie, Soziologie, Kulturwissenschaft und Kunsttheorie häufig auf ein überraschendes Phänomen. Autorinnen in Gestalt des herkömmlichen Menschen – Frau Braidottis Internetfotos zeigen uns eine liebenswürdige Dame, mit der man beim Nachmittagstee gern einige Kekse knabbern und über schöngeistige Themen plaudern möchte – überbieten sich publizistisch in neumenschlichen Inszenierungen. Ihr Ziel: Der alte Mensch, das bisherige Subjekt der Geisteswissenschaften, soll für tot erklärt werden.

Um nur ja keinen Zweifel an der apokalyptischen Dramatik dessen, worum es hier geht, aufkommen zu lassen, hat der sonst seriöse Frankfurter Campus Verlag die Übersetzung von Braidottis Buch, „The Posthuman“, knallig untertitelt: „Leben jenseits des Menschen“. Dazu fällt ein: Es gibt ein berühmtes Wort des französischen Soziologen Michel Foucault, das sich am Ende seines einflussreichen Werkes über die „Ordnung der Dinge“ (1966) findet. Demnach werde der Mensch verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Gemeint war natürlich nicht der biologische Homo sapiens, sondern der Mensch der europäischen Klassik, jener Mensch, dem bereits Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ attestierte, trotz äußerer Lebendigkeit und technischer Potenz innerlich abgestorben und seinem Ende nahe zu sein. Spenglers Prophezeiung stammt aus dem Jahr 1918. Bis heute hat die einschlägige Literatur nicht aufgehört, all die Tode zu zelebrieren, die den Weg des siechen Abendlandes pflastern: Tod der Geschichte, Tod des Subjekts, Tod der Tradition. Und immer wieder: Dem Tod Gottes, den bereits Friedrich Nietzsche wortreich verkündet hat, folgt, nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust, der Tod des Menschen.

Froh, den alten Adam loszuwerden

Überblickt man die literarischen Inszenierungen, in denen dieser „Tod“ beschworen wird, so springt ins Auge, dass für die meisten ein Aufatmen, wenn nicht gar eine triumphierende Tonlage charakteristisch ist. Die Posthumanistin, inklusive Braidotti, scheint aufrichtig froh zu sein, dass unsere Kultur dabei ist, den alten Adam endlich rundum loszuwerden. Vergleichen wir damit Nietzsche, dem oft nachgesagt wird, sich mit seinem Antichristentum zu brüsten, dann treffen wir freilich im 125. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1882) auf eine ganz andere Stimmung. Dort irrt, unter bereits abgebrüht Gottlosen, der „tolle Mensch“ auf dem Markt herum: „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich. Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?“

Hier klagt ohne Zweifel Nietzsches Alter Ego. Damit eröffnet der Gott-ist-tot-Rufer eine Reihe von traurigen Abgesängen auf das christliche Abendland, die in Martin Heideggers großem „Brief über den ,Humanismus‘“ aus dem Jahr 1946 ihren intellektuellen Höhepunkt (oder, je nach Sichtweise, Tiefpunkt) erreicht. Der Brief, geschrieben als Antwort auf eine Anfrage des Germanisten und Heidegger-Verehrers Jean Beaufret – dieser kämpfte während der deutschen Besatzung im französischen Widerstand –, liefert die Initialzündung für alle späteren Diskussionen über den Posthumanismus.

Was Heidegger am Humanismus auszusetzen hat, war dessen Anthropozentrismus. Der Mensch ist in Heideggers Sichtweise kein autonomer Schöpfer von großartigen Ideen und Werten. Er ist nicht die „Krone der Schöpfung“, sondern eher Medium einer tief liegenden Wahrheit, tiefer als jene der Wissenschaft: nämlich der Wahrheit des Seins, das alles Seiende durchdringt und fundiert. Man erkennt unschwer den religiösen Nachklang. Das Sein – was ist es ursprünglich, wenn nicht ein Statthalter des Göttlichen? Auch bei Heidegger schwingt ein Moment der Trauer über all das Verlorene mit, wenn er am Schluss des Humanismusbriefes orakelnd schreibt: „Das Denken ist auf dem Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens.“

Dass Braidotti, trotz zwölf dicht bedruckter Seiten mit Literaturangaben, Heidegger unerwähnt lässt, während sie alle Schickimickis unserer Tage zitiert, ist schwer verständlich. Nein, verständlich schon, aber wenig sympathisch. Denn man darf vermuten, dass es für eine eminente Feministin ihres Ranges nicht opportun wäre, den im Herzen reaktionären, im Charakter chauvinistischen, notabene faschistisch angepatzten Heidegger jenen Rang einzuräumen, der ihm in der Posthumanismus-Debatte gebührt.

Hinzu kommt: Den heutigen Posthumanistinnen ist, so hat man den Eindruck, die Perspektive des Verlusts fremd geworden. Es geht ihnen vielmehr darum, eine möglichst unzweideutige Apologie des epochal Neuen anzustimmen. War es bei Nietzsche der Übermensch, dem noch Hitler begeistert beipflichten konnte, so ist es nun der Mensch nach dem Menschen. Er kristallisiert sich als tränenlose Gestalt der Zukunft für Braidotti aus diversen Strömungen des „posthumanistischen Denkens“ heraus. Der posthumane Mensch ist demnach, statt den universalistischen Werten der Aufklärung verpflichtet, feministisch und postkolonialistisch (was immer das heißt). Außerdem hat der „postistische“ Mensch aufgehört, technikkritisch im herkömmlichen Sinn zu sein; positiven Sinnes setzt er auf eine zunehmende Mensch-Maschine-Symbiose ebenso wie auf genetische Basteleien (was immer das bedeutet, hoffentlich nichts allzu Schlimmes).

Darüber hinaus wird es in der schönen neuen Welt kein Erziehungsprogramm geben, das eine Festigung und Vertiefung der Individualität anstrebt. Man/frau/es wird sich viel eher an dem orientieren, was Gilles Deleuze und Félix Guattari im Anti-Oedipe 1972 vorschwebte: ein „nomadisierendes Subjekt“, das nie und nimmer auf die Selbstverwirklichung alten Stils aus ist, etwa nach dem Vorbild Goethes: „Wer immer strebend sich bemüht, / den können wir erlösen.“ Der posthumane Mensch überlässt sich statt den Engeln, die Faust in die höheren Sphären geleiten, lustvoll den mäandernden Strömen seiner primären Lebensenergie (was immer das wiederum sein mag, dem altmodisch modernen Leser schwant nichts Gutes).

Damit zusammenhängend muss wohl Braidottis Behauptung gelesen werden, die ans Erzmetaphysische grenzt: Die substanzielle Trennlinie zwischen dem Homo sapiens und allen anderen Daseinsformen, besonders den Tieren und Pflanzen, bricht zusammen. Mit welchen praktischen Konsequenzen will sich dem willigen Leser nicht recht erschließen. Doch geht es offensichtlich darum, eine posthumane Spiritualität ins Spiel zu bringen. Deren sattsam bekannte Leitmetapher lautet „Vernetzung“.

Sind wir, so Braidottis Frage, nicht alle irgendwie „informationell“ und sonst wie miteinander vernetzt, sodass wir, über Myriaden von Bedeutungsfädchen und Beziehungsknötchen, letzten Endes mit dem großen Ganzen eins werden, ohne eines Zentrums (Gottes, des Ichs, Buddhas) zu bedürfen?

Wie man es oft in Texten dieses sich geistesoffen gebärdenden, weil gegen alle absoluten Wahrheiten auftretenden Genres findet, herrscht auch bei Braidotti eine Tendenz, „postistische“ Wortungeheuer als Positionsmarkierungen zu verwenden. Mitunter bedrängt den Leser das Gefühl, es soll eine chinesische Begriffsmauer gegen alles Andersdenkende errichtet werden: „So haben zum Beispiel postanthropozentrisch-neohumanistische Traditionen sozialistischer oder standpunktbezogener feministischer und postkolonialer Theorie umweltpolitische Fragen auf postanthropozentrische oder zumindest nichtandrozentrische und nichtpatriarchalische Weise behandelt.“ Na und?

Man wird an den Abgrenzungseifer katholischer Dogmatiken der vorkonziliaren Zeit erinnert, deren Begriffsfetische dazu gedient haben, die „einzig wahre Lehre“ zu schützen. Ihr nicht zu unterschätzender Vorzug, auch gegen alles nachkonziliare Gerede, war indes, dass sie ein Dogma hatten, das sie mit scholastischer Präzision fixierten. Braidotti hingegen erzeugt einen Begriffsstau aus grauslichen Komposita, dagegen war der Übersetzer machtlos.

Galimathias aus Scheingelehrheit

Je länger man liest, umso weniger baumelt man in einem luftig gesponnenen Netz aus Geist und Witz, das weit über das humanistische Pathos und alle bildungsbürgerliche Trägheit gespannt wäre. Immer heftiger plagt der Druck, der entsteht, sobald ein Bedeutungskollaps droht. Oder geht es am Ende nur darum, die posthumanistische Perspektivenlosigkeit hinter einem Galimathias aus Scheingelehrtheit zu verbergen?

Frage: Was haben das Klonschaf Dolly, fahrerlose Zuggarnituren zwischen Millionenmetropolen und gigantisch leistungsfähige Mobiltelefone gemeinsam? Braidottis Antwort: „Es ist eine der möglichen Welten, die wir uns geschaffen haben, und sofern es das Ergebnis unserer gemeinsamen Anstrengungen und Vorstellungen ist, ist es ganz einfach die beste aller möglichen posthumanen Welten.“ Für Braidotti ist es, als würden – wörtlich – die Türen unserer kollektiven Wahrnehmung endlich aufgestoßen und wir das Brausen der kosmischen Energie vernehmen. Nun ist die Katze aus dem Sack: Bloß keine altmenschlichen Visionen, bloß kein altlinkes Prinzip Hoffnung! Die posthumane Existenz, die humane Essenz „jenseits des Menschen“ ist das Leben, das sich auslebt. Man könnte von einer Heiligung des Bestehenden sprechen.

Was mich betrifft, so höre ich das Brausen der kosmischen Energie nicht. Ich höre täglich, dass unzählige Menschen verhungern, auf der Flucht zugrunde gehen, gefoltert, vergewaltigt und abgeschlachtet werden, während unsere Hochgeschwindigkeitszüge im Kreis rasen, unsere Handys uns beschämen und in Geheimlabors allerlei Chimären heranwachsen. Kurz: Was wir brauchen, ist mehr Humanismus, nicht weniger! ■

Rosi Braidotti

Posthumanismus

Leben jenseits des Menschen. Aus dem Englischen von Thomas Laugstien. 216S., brosch., €25,60 (Campus Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2014)

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