Werke für Gott, den Zaren oder die Partei

Kenntnis- und aufschlussreich: Vladimir Fedosejevs Gang durch die russische Musikgeschichte der vergangenen 200 Jahre.

Ein Gang durch die jüngere, in diesem Fall 200 Jahre zurückliegende Musikgeschichte, bei dem ein besonderer Kenner und Interpret dieses Repertoires aus seinem Nähkästchen plaudert? Auch das ist „Die Welt der russischen Musik“, wie der Buchtitel lautet. Es sind nicht wenige Erkenntnisse, die man gewinnen kann. Vor allem, weil der einstige Wiener Symphoniker-Chefdirigent (1997 bis 2004) seine Themen mit großer Anschaulichkeit darzustellen weiß. Egal, ob es um den kaum mehr als durch die Ouvertüre zu seiner Oper „Ruslan und Ludmilla“ einem größeren Kreis bekannten Begründer der russischen Musik, Michail Glinka,geht oder um den in seiner Bedeutung verkannten Alexander Dargomyschski, der Wagners Operndramen vorausahnte, um „das mächtige Häuflein“ mit Mili Balakirew und den Mediziner und Chemiker Alexander Borodin, für den Musik „Ruhe, Spaß, eine Laune, die mich von meinen offiziellen Pflichten als Professor, Wissenschaftler ablenkt“, war. Erst recht trifft das bei Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Anton Rubinstein, Modest Musorgskij, Nikolai Rimskij-Korsakow, Alexander Glasunow, Igor Strawinsky, Alexander Skrjabin, Sergej Rachmaninow, Sergej Prokofieff oder Dmitrij Schostakowitsch zu, denen jeweils ein Beitrag gewidmet ist. Stets beeindruckend, mit welcher umfassenden Perspektive der Autor die Beziehung zwischen Leben und Werk sowie die Einbindung in die russische Tradition darstellt.

Im Tschaikowsky-Kapitel wird man aufschlussreicher über dessen Symphonien informiert als in einem erstklassigen Konzertführer, bei Prokofieff mit der Überlegung konfrontiert, ob dessen relativ kurzes Leben nicht seiner zu großen Nähe zu dem herrschenden Sowjetsystem geschuldet sei.

Dass Fedosejev eine besondere Vorliebe für Schostakowitsch hat, zeigt sich schon an der Ausführlichkeit, mit der er sich über dessen Vita und Œuvre ausbreitet. Folgerichtig nach einem Essay über „Musik und Politik – Kunst und Künstler in der Diktatur“, was der Dirigent differenziert sieht. Er geißelt die Instrumentalisierung von Komponisten, Werken und Interpreten für politische Zwecke. Er macht aber ebenso deutlich, dass während des Sowjetregimes bis zu 40 Prozent der Werke über Aufträge entstanden. Das sicherte die Existenz vieler Komponisten.

Ebenso aufschlussreich wie die Komponistenporträts sind die dazwischengefügten Beiträge, die Grundsätzliches ansprechen. Etwa die Frage nach der einen Wahrheit in der Interpretation, die angestrebt werden muss, auch wenn es sie in dieser Ausschließlichkeit nicht gibt. Oder das ebenso wenig eindeutig zu beantwortende Thema, was alles unter russischer Musik subsumierbar sei. Erwähnenswert, wie sehr hier als Inspirationsquellen ebenso explizit auf die christliche Kultur hingewiesen wird wie auf einen oft nicht auf den ersten Blick erkennbaren Humor, der zuweilen zynische Züge trägt. „Lachen als Protest aus einer völligen Verzweiflung heraus“ (Fedosejev).

Was nützt es, wenn man über russische Musik Bescheid weiß, aber nicht, wie man sie darstellen soll, zumal Emotion oft mit überbordendem Effekt, gar Gefühlsduselei verwechselt wird? Deswegen finden sich hier auch konkrete Hinweise zur Interpretation. Übrigens nicht nur zur russischen Opern- und Konzertliteratur, sondern zu auch Musorgskys nicht selten missverstandenem Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“.

Überhaupt ist es Fedosejev wichtig, interpretatorische Traditionen weiterzugeben. Zumal in einer Zeit, in der, wie er beklagt, immer mehr die Kriterien für Kultur verloren gehen, man sich offensichtlich nicht bewusst sei, dass ein Verlust der Kultur eine Verarmung der Seele zur Folge habe. Auch das bewusst zu machen, sieht er als Anliegen dieses Buches.

Entstanden ist es im Zusammenwirken mit seiner Frau, der Musikwissenschaftlerin Olga Dobrochotowa. Elisabeth Heresch, Russisch-Dolmetscherin und Korrespondentin in Washington und für Paris, hat die Gespräche mit dem Dirigenten aufgezeichnet und ins Deutsche übertragen, musikwissenschaftlich beraten von Wilhelm Sinkovicz. ■


Am 16. und 17. August leitet Vladimir
Fedosejev eine Mozart-Matinee bei den Salzburger Festspielen mit Mozart, Beethoven und Tschaikowsky.

Vladimir Fedosejev

Die Welt der russischen Musik

Aufgezeichnet von Elisabeth Heresch und Wilhelm Sinkovicz. 192S., geb., €22,50 (Edition Steinbauer, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2014)

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