Bit für Bit: Terror in New York

In „Bleeding Edge“ führt uns Thomas Pynchon nach Manhattan, zu seinem Homeground. Der vielschichtige, funkelnde Roman ist Krimi, Familiengeschichte, Satire übers junge Internet. Und er steuert auf 9/11 zu.

Es ist der erste Frühlingstag des Jahres 2001...“ Mit diesem lapidaren Satz beginnt Thomas Pynchon seinen Roman „Bleeding Edge“, der ein Jahr nach dem englischen Original nun in stilsicherer deutscher Fassung vorliegt. Seine Protagonistin, Maxine Tarnow, von der Upper West Side in Manhattan bringt ihre fast schon zu Teenagern gereiften Zwillinge, Ziggy und Otis, in die Otto-Kugelblitz-Schule, ehe sie ins Büro geht. Ein (erfundener) früher Psychoanalytiker, der von Sigmund Freud verstoßen worden ist, hat diese Schule gegründet. Seine Theorie: Das Leben ist eine Serie klassifizierter Geistesstörungen, die erst mit dem Tod enden. Es gibt offenbar noch immer keine Aussicht auf Heilung in Pynchons Welt voller Paranoia.

Das ist eine herrliche Eröffnung für Fans, die seit Langem vermuten, dass dieses Phantom der amerikanischen Literatur, von dem es neben den realen Büchern für die Öffentlichkeit nicht viel mehr als ein Passfoto als junger Mann gibt, genau in jenem jüdischen Viertel gewohnt hat oder sogar noch wohnt. Seine Frau soll dort oben am Broadway eine renommierte Literaturagentin sein. Einmal hat man Pynchon angeblich beobachtet, wie er den Sohn zur Schule begleitet hat. Aber es könnte sich bei diesen Indizien auch um reine Fiktion handeln. Über diesen famosen Schriftsteller weiß man wahrlich wenig: Angeblich wurde er 1937 auf Long Island geboren, studierte Physik und Englisch an der Eliteuniversität Cornell, um danach zu verschwinden und Weltliteratur zu schreiben.

Dieser unheimlich belesene Konstrukteur komplexer Handlungsstränge, der abgründige Anspielungen liebt, hat seine Leser bereits zuvor in sieben Romanen das absolute Zweifeln gelehrt – mittels kalter Entropie, irrer Weltverschwörung, heißem Verfolgungswahn und der frustrierten Gewissheit, dass die postmoderne Welt nicht wirklich zu erfassen ist. Führt er sie nun in einem Spätwerk endlich in seine engere Heimat in der Stadt New York zurück, die er in „V“ vor 51Jahren nur gestreift hat? Hat er eine Idylle geschrieben, die unschuldig mit dem Frühling beginnen darf? Nein. Bei der Jahreszahl 2001 schrillen weltweit die Alarmglocken.

Also nicht nur eine Home Story, sondern weit mehr! Auf 604 Seiten wird ein halbes Dutzend Genres verwoben – darunter ist auch ein Familienroman, aber zudem billige Pulp Fiction, die Kalauer nicht scheut, ein Krimi mit losen Fäden, in dem er dem Volk so genau wie Ed McBain oder Elmore Leonard aufs Maul schaut, eine Gesellschaftssatire, die sich bis zur schrillsten Kapitalismuskritik steigern kann, eine Abrechnung mit dem Internet, die mit technologischen Fachausdrücken nicht geizt. (Der Titel „Bleeding Edge“ zum Beispiel bezeichnet eine noch nicht ausgereifte Technologie, die für frühe Nutzer hohe Risken birgt.) Dieser Roman ist auch ein Versuch, den Terroranschlag auf die Twin Towers des World Trade Center in New York zu verstehen. Unheimliche Anzeichen gibt es recht bald in dem Buch, aber mehr als die Hälfte des Romans verstreicht, ehe der Brennpunkt des 11.September erreicht wird, bei dem islamistische Terroristen mit zwei Jumbojets in die Türme des Welthandels geflogen sind und tausende Menschen mit in den Tod genommen haben. An diesem Tag muss man auch um Romanfiguren zittern, die es erwischen könnte.

Solch dunkle Grundierung mit einem die ganze Nation traumatisierenden Verbrechen zersetzt jedoch nicht die hellen Seiten der Geschichte. Die schlagfertige und kämpferische Heldin des Romans bleibt bei all ihrer anerzogenen Skepsis und dem ausgeprägten Improvisationsvermögen das, was man im Jiddischen „a Mensch“ bezeichnet – eine integre Person. Maxine ist eine Detektivin für Betrugsfälle, die wegen leichter Abkürzungen auf dem Rechtsweg die Lizenz verloren hat. Umso interessanter sind ihre Kunden und deren Probleme. Sie hat mit einem Whistleblower, diversen anderen Computerfreaks, Mafiosi und einer Reihe dubioser Geschäftsleute zu tun. In ihrer Handtasche führt sie stets eine kleine Pistole der Marke Beretta mit. Sie braucht auch, wer sich mit einem Dotcom-Milliardär wie Gabriel Ice anlegt, der unter dem Deckmantel seiner Technologiefirma hashlingrz offenbar kriminelle Machenschaften verbirgt. Es geht um die totale Überwachung. Diesem Mann mit dem Namen eines kalten Erzengels begegnet man nur indirekt. Er scheint ein Bösewicht wie aus einem Actionfilm zu sein, bleibt aber so anonym wie vieles im Netz.

Das hat bei Pynchon Tradition. Die sinistren Mächte, die mit dem militärisch-politisch-wirtschaftlichen Komplex verbunden sind, kann keiner wirklich fassen. In einer Episode wird das sogar überhöht: Als die Detektivin nach Montauk ganz im Osten von Long Island fährt, um in einer eben erbauten Villa von Ice herumzuschnüffeln, gerät sie in unterirdische Gänge, die zu einer sagenumwobenen Abhöranlage führen. Ufologen beschäftigt diese seit Jahrzehnten. Dort erblickt Maxine für Sekundenbruchteile ein seltsam leuchtendes Wesen. Einen Außerirdischen? Genauso irreal ist es, wenn die Ermittlerin ins tiefe Web abtaucht: in eine Gegenwelt verlorener Seelen. Ein Schuss Mystik ist beim aufgeklärten Linken Pynchon stets drin.

Auch diesmal kommen zuhauf skurrile Figuren vor: ein schwarzer Bote, der verlässlich stets im richtigen Moment seltsame Post bringt, ein Liebhaber von Damenfüßen, ein Ermittler mit übersinnlichem Riechvermögen, ein Secret-Service-Killer, dem die Heldin verfällt, ein russischer Geschäftsmann, der gefährlich fettes Eis aus seiner Heimat einfliegen lässt und auch sonst in manchen Dingen großzügig ist. Normal scheint hier nur Maxines Familie zu sein – ein rettender Hafen: Die Eltern sind Opernliebhaber mit gesundem Menschenverstand. Der Exgatte Horst besinnt sich und kehrt zu dieser tollen Frau zurück. Und die Buben? Sie können am Ende sogar schon allein zur Schule gehen: „Schon gut, Mom, wir kommen klar.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2014)

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