Nimm mich mit, bittet der Chauffeur

Wer trägt die Verantwortung für den sogenannten Ansturm von Flüchtlingen aus Afrika? Die Ethnologin Doris Byer ist nach Mali gereist. Ihr zur Seite der aus malischer Familie stammende Abdoulaye Sima. Über die späten Folgen der Kolonialisierung: unbedingt lesen!

Wir machen diese Reise nach Afrika, damit die Verbindung wieder hergestellt wird, als Anhaltspunkt, als Orientierung für die Nachkommen.“ Mit dieser Mission begibt sich Doris Byer auf die Spuren der Familie eines aus Mali stammenden Franzosen. Ihr Buch, zwischen Geschichte, Soziologie, Ethnografie und Erzählung changierend, spart auch die Beziehung zwischen den Reisenden nicht aus. Dazu führt die Ethnologin sich selbst als Doris in dritter Person ein. Ihr Begleiter, Abdoulaye Sima, wurde in Dijon als Sohn einer Familie der Soninké geboren. Die Soninké waren in einem ökologisch labilen Raum immer schon Arbeitsmigranten gewesen. Abdoulayes Vater besuchte eine Militärakademie und musste danach feststellen, dass nur weiße Absolventen gute Jobs erhielten. Einheimische unter Vortäuschung von Chancen ins Militär zu locken entsprach einer Praxis, mit der Frankreich die für die Aufrechterhaltung der Kolonialmacht nötigen Soldaten rekrutierte. Sogar Ehre und Lob für die Befreiung Frankreichs von den Nazis kam auf Drängen der rassistischen US-Army nur Weißen zugute. Schwarze Soldaten wurden in einer Blitzaktion vorher abgezogen.

Abdoulayes Vater emigrierte auf Beschluss der Familie nach Dijon, um so die Lebensgrundlage für die Gebliebenen zu garantieren. Die französischen Mitglieder der Sima unterstützen zudem die Bewohner des von ihnen verklärten Herkunftsorts: „Kein Beton, keine Elektrizität, keine Autos, nur Häuser aus Lehm und gastfreundliche Menschen. Ambidedi, das ist wirklich noch authentisches Afrika.“

Einmal in Bamako, bestimmt Abdoulaye den Rhythmus des Projekts, da er die Verbindung zur Familie herstellt. Die Wahrnehmung der Reisenden driftet auseinander. Auf Doris wirkt die Stadt vermüllt, zerrissen. Er fühlt sich wohl, sieht Dinge, die ihr anscheinend entgehen. Und sie erfährt nie alles. Er auch nicht, da er kein Soninké spricht. In der Beschreibung von Klima, Hitze, Abfall wird Byers Bericht zuweilen sogar literarisch. Sie ist ihren Gefühlen ausgeliefert, was sie doch als Wissenschaftlerin nicht sein soll, und vermittelt dadurch Wahrhaftigkeit im Zweifeln. Den intensivsten Kontakt stellen die Gespräche mit Tante Moussokoro dar, die eine Ausbildung zur Krankenschwester machen durfte, die sie zum Teil in Prag absolvierte. Dort lernte sie ihren Mann kennen, durfte ihn sogar heiraten, ein Privileg in ihrer Umgebung. Doris' Freude über diese Nähe steckt an. Sie fühlt sich ein, überschreitet die von Gesprächspartnern gesetzten Grenzen nicht, lässt ihnen ihre Würde.

Eines Abends wird Doris' ständige Suche nach erfrischendem Nass mit dem Auftauchen eines Stausees befriedigt. Die Geschichte seiner Errichtung steht beispielgebend für die „Zivilisierung“ durch die Kolonialmacht mithilfe von Technologie und Kapital: In der Zwischenkriegszeit beschloss das krisengeschüttelte Frankreich, die Savanne um den Niger-Fluss in fruchtbares Baumwollanbaugebiet zu verwandeln. Hunderttausende wurden zwangsumgesiedelt, Dörfer geflutet, Zwangsarbeiter rekrutiert, die einheimische Infrastruktur, der Zusammenhalt zerstört, die wirtschaftlichen Grundlagen aus dem ökologischen Gleichgewicht gebracht. Fertiggestellt erst nach dem Zweiten Weltkrieg, erbrachte das Projekt nur ein Zehntel des errechneten Ertrags, und eine große Dürre bereitete dem Stausee das Ende.

Da Byer auf den Spuren der Familie Sima ständig Überresten französischer Kolonisation begegnet, muss sie diese Geschichte miterzählen, die nicht weniger blutig als die anderer Kolonialmächte war. Auch in den für Europa lukrativen Sklavenhandel war Frankreich involviert: „Sklaven aus Afrika wurden nach Amerika geliefert, wo sie Rohstoffe produzierten, die, nach Europa verschifft, zu Industrieprodukten verarbeitet wurden. Diese wurden wiederum in Afrika auf den Markt gebracht und gegen Sklaven eingetauscht.“ In der Folge verringerte sich Afrikas Bevölkerung um ein Drittel, regionale Wirtschaftssysteme wurden zerstört. Danach verursachte der koloniale Aufbau weiteren Bevölkerungsschwund. Plantagenwirtschaft führte zu Enteignungen, Vertreibungen und zur Vernichtung lokaler Landwirtschaft. Infolgedessen wurden Nahrungsmittel knapp. Zurück blieben Hunger und Ruinen.

Abdoulaye dokumentiert die traurigen Reste fotografisch: Wachtürme, Gefängnisse, Schulen, aufgelassene Bahnstationen, Fabriken, Steinbrüche, Zeugen von Willkür und Brutalität. Zeugen aber auch von ausradierten einheimischen Gegenbewegungen. Im Nachzeichnen dieser Abfolge von Täuschung und Zerstörung liegt die Vergeblichkeit des Reiseprojekts begründet: „Hierzulande konnte man wohl nichts richtig machen, denn die Verhältnisse waren einfach falsch.“ So wird Doris von einem gläubigen Onkel vorgeworfen, sie würde sich die Sima-Familiengeschichte erkaufen, um davon zu profitieren. Sowieso sei alles unwahr, was Europäer über Afrika schrieben.

Endlich erreichen sie den gelobten Ort der Herkunft, Ambidedi. Kurz können sie in der stundenlangen Zubereitung eines Festmahls ohne technische Hilfsmittel erfühlen wie dieses Leben jenseits von Fortschritt und Zivilisation aussehen könnte. Die Wahrheit über das authentische Dorf ist jedoch eine andere, wie die Bewohner betonen: Alle leben von den regelmäßigen Zuwendungen der Auswanderer. Bleiben die Gelder aus, ist das Ende besiegelt. Was auch bedeutet, dass es neuerlicher Auswanderer bedarf. Mit der nun strengeren Flüchtlingspolitik ist dieser letzte Zusammenhalt gefährdet.

Nimm mich mit, bittet der Chauffeur Doris daher. Ich will es zu etwas bringen, meint auch der gläubige Cousin Abdoulayes, als er fort möchte. Doris warnt, dass das schwierig sei, aber er versteht nicht: „Warum sollte ich das nicht dürfen? Wo ihr doch überall hinfahren, überall Geld verdienen und den Einheimischen die Arbeit wegnehmen könnt!“ Die Wahrheit über Europa interessiert keinen. „Partir“ ist das Zauberwort, das alle Probleme der Männer zu lösen verspricht. Die jungen Frauen flüchten in tiefe Religiosität, die „totale Unterwerfung“.

Der Zustand der Region um Niger und Senegal kann gemäß Byers „Mali“ als Produkt der Kolonisierung und damit der Zerstörung einheimischer Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen verstanden werden. Die Dekolonisierung hinterließ Ruinen von Ideen und Bauwerken, der frühere soziale Zusammenhalt war nicht wieder herstellbar.

Da ein Überleben für junge Menschen so kaum möglich ist, entscheidet die Familie, dass einer von ihnen nach Europa muss, um alle Verbliebenen von dort aus zu versorgen. Wer also trägt die Verantwortung für den sogenannten Ansturm von Flüchtlingen? Der mit Schwarzweißfotografien Abdoulaye Simas versehene schön gestaltete Band „Mali“ bietet Erkenntnisse zum Verständnis der derzeitigen Problematik. Unbedingt lesen! ■

Doris Byer

Mali

Eine Spurensuche. Mit Fotos von Abdoulaye Sima. 400S., geb., €26 (Droschl
Verlag, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2014)

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