Fiel ein Pflug vom Himmel?

Er war Dadaist und Krimiautor: Walter Serner. Die Neuausgabe des Prosabands „Letzte Lockerung“ richtet den Fokus öffentlichen Interesses auf einen radikalen und befreien-den Durchlüfter des Denkens.

Die Neuausgabe von Walter Serners „Letzte Lockerung“ in der Fassung von 1927 könnte ein Auftakt sein, diesen Autor wieder ins Gespräch zu bringen. Zwar legte der Renner Verlag 1979 bis 1983 eine Werkausgabe Serners vor und Goldmann 1988 eine Taschenbuchkassette, aber für eine Kanonisierung ist das Werk wohl zu inkohärent und weit-gehend resistent gegen Etikettierungen. Zudem ist über Serners Leben wenig Konkretes bekannt. Das liegt an seinem Hang zu Mythisierung und Stilisierung – es könnte auch Diskretion mit im Spiel gewesen sein –, ebenso wie an den Lebensumständen.

Geboren 1889 in Karlsbad als Sohn eines Vaters, an den Kafkas Brief adressiert sein könnte, bringt Serner mit Mühe Schule und Jus-Studium hinter sich und entflieht dann in ein unstetes und immer unabgesichertes Leben als vazierender Schriftsteller. Nach 1927 lassen ihn die immer lauteren anti-
semitischen Ausfälle schließlich verstummen. Die Flucht vor den Nazis missglückt, das Ende beginnt mit der Deportation am 10.August 1942 nach Theresienstadt.

Leben und Werk Serners enthalten damit eine Reihe von Hürden, die eine breitere Wahrnehmung verhindern, und sogar die verdienstvolle Neuausgabe seiner „Letzten
Lockerung“ hat – wohl unbewusst – Rezeptionsbarrieren eingebaut. „Dieser Knigge für Zyniker gehört in jeden Smoking“, liest man auf dem Umschlagrücken, was kleidermäßig den bekanntlich lesefreudigeren Teil der Bevölkerung von vornherein ausschließt. Dafür ist am Buchumschlag ein Bild von Tamara de Lempicka abgebildet, eine der erfolgreich wiederentdeckten Künstlerinnen der Zwanzigerjahre. Vom Smoking-Gebot sollten sich Leserinnen jedenfalls nicht abschütteln lassen, schließlich sind sie vom Umgang mit der Weltliteratur trainiert, frauenfeindliche Ausritte mit dem jeweils historischen Maß zu messen. Und das ist bei Serner entgegen manch martialischer Überschrift absolut moderat. Immerhin ist unter Nummer 174 zu lesen: „Der allgemeine Schwachsinn des Weibes verrät lediglich den seines Entdeckers. Es gibt gescheite und dumme Frauen.“ Einen derart differenzierten Blick schafften damals keineswegs alle.

Lesen sollte man Serners „Letzte Lockerung“ aber vor allem deshalb, weil sie wirklich einlöst, was der Titel verspricht. Georg M. Oswald hat für sein Nachwort den Begriff im Grimmschen Wörterbuch nachgeschlagen und dort die Erklärung „das lockermachen: die lockerung der fesseln; lockerung der disciplin“ gefunden. Doch Serners „Lockerung“ – vor allem im ersten, 1918 im Umfeld der Zürcher Dada-Bewegung entstandenen Teil – impliziert viel mehr. Sie unternimmt eine radikale und befreiende Durchlüftung des Denkens; keck bis blasphemisch wird hier alles abgewunken und durcheinander gewirbelt, worauf die „Gesinneriche“, „Geistportiers“ und „Vis-à-Wüteriche“ aller Zeiten ihre Ideologien und Herrschaftsmechanismen gründen. „10 Pfennig dem Kühnen, der mir nachweist, dass etwas letzthin nicht willkürlich als Norm herumspritzt!“, heißt es in Punkt 5, und kurz zuvor: „Der wahre Beruf des Menschen sei, den Acker zu bestellen. Wieso? Fiel ein Pflug vom Himmel?“

Paragraf auf Paragraf führt Serner vor, dass jede Weltanschauung eine „Vokabelmischung“ ist, die Kunst „eine Kinderkrankheit“ sowie „sämtliche Symptome des schlechten Gewissens (bim!), der Schuld (bam!)“ und der Kirchenglocke folgt ein langes, verwickeltes Satzgebilde, das Serner dann „dem ohnedies schon überstattlichen Bankrutt [!] der Psychologie so leichthin noch“ nachschickt. In dieser durchgängigen Selbstironie samt intelligenter Umwertung der Wörter liegt ein gehöriges Provokationspotenzial. Serner lässt seine Sätze nicht nur bewusst immer wieder im Off hängen, er wählt mit den durchnummerierten Merkversen eine radikal dissonante Form zu seiner expliziten Absage an alles Überlieferte und Geordnete, schließlich ist „alles unhaltbar, unter allen Umständen. Nicht einmal daran, dass man sich an nichts halten kann, kann man sich halten.“

Und er weiß genau, dass diese Generalverweigerung im Sinne seines „Dem Kosmos ein Tritt!“ pure Illusion und Pose ist. „Ich würde mich freuen zu hören, dass die-se Seiten der letzte Mist sind, der geschrieben wurde. Ich würde mich sehr freuen“, schreibt er im Duktus des Dada-Manifests und lässt in den folgenden Jahren in rascher Folge Buch auf Buch folgen. Doch seiner Definition „Zynismus: äußerster Mangel an Einseitigkeit“ bleibt Serner auch in den kriminalistischen Kürzestgeschichten und Kurzromanen treu. „Hellhörig ist, wer immer und überall den Pferdefuß sieht“, und den stöbert Serner zielsicher an allen Ecken und Enden auf. Für sich selbst beansprucht er selbstbewusst das Recht, an der Herrschaft der Pferdefuß-Verwalter nicht mitzuwirken. Denn: „Wer öffentlich mitredet, hat augenblicks seinen überlegenen Standpunkt (Gummiball) eingebüßt.“

Darin liegt natürlich auch für Serners „Lockerung“ der Pferdefuß. Es ist eines der literarhistorisch spannendsten Phänomene, dass just im Umkreis des Dadaismus, der den Begriff der Autorschaft und des kohärenten Werkes radikal in Frage stellte, die Dichte der Plagiatsvorwürfe so hoch ist wie nirgends sonst, und dabei spielt auch Serners „Letzte Lockerung“ mit, die 1920 als sein erstes Buch mit dem Untertitel „manifest dada“ erscheint. Kurz darauf folgt das Zerwürfnis mit Tristan Tzara, der sich vor allem im tonangebenden Pariser Dada-Umfeld stets rascher und besser zu platzieren verstand. Für die zweite Ausgabe, die Serner um das umfangreiche „Praktische Handbrevier“ erweitert, 1927 als letzte Veröffentlichung publiziert, überarbeitet er die „Lockerung“ und ersetzt den Begriff „dada“ konsequent durch „Rasta“.

Der neue zweite Teil versammelt, wiederum fortlaufend durchnummeriert, Handlungsanweisungen für die Pflege des Images des geheimnisvoll ortlosen, undurchschaubaren Dandy-Hochstaplers. Das wurde oft zu wörtlich interpretiert, wohl auch aufgrund des „dadaistischen“ Aktes seines Verlegers Paul Steegemann, der Serner einen fingierten kriminalistischen Lebenslauf andichtete. Die zahlreichen machtpolitischen Tipps, wie man sich erfolgreich selbst promotet und im gesellschaftlichen Verkehr punktet, sind einfach präzise und schonungslos formulierte Psychogramme zwischenmenschlichen Verhaltens. Wer so genau hinsieht und beobachtet, dem entgeht keine Schwäche des Gegenübers, keine hierarchische Lücke, die für das Eigenmarketing oder das Erreichen taktischer wie erotischer Ziele nutzbar gemacht werden kann.

Dass sich die Sentenzen mitunter auch widersprechen, absurde Forderungen stellen oder ins Gegenteil kippen beziehungsweise gekippt werden, gehört zum Programm. Geleugnet und zurückgewiesen wird in diesem Buch auf jeder Seite etwas: eingefahrene Verhaltens- und Sichtweisen, Konventionen und Vorschriften oder was immer. Ob im Smoking oder in der Handtasche, Serners „Lockerung“ passt im handschmeichelnden Manesse-Format gut hinein und sollte als originelle Kampfschrift gegen verkrustete Haltungen stets zur Hand sein. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2008)

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