Im Dialog mit Papst und Derrida

Einen Sprung in den Glauben macht Jürgen Habermas in seiner Aufsatzsammlung „Ach, Europa“. Er anerkennt darin die Bedeutung religiöser Denkmuster. Eine Kehrtwendung?

Wenn Derrida und ich“, schreibt Jürgen Habermas in seinem jüngsten Buch über Europa und seine geistigen Grundlagen, „gegenseitig unseren je verschiedenen Motivationshintergrund verstehen, muss eine Differenz der Lesarten keine Differenz in der Sache bedeuten.“ Das ist ein bemerkenswerter Satz, weil er, wie der Verfasser selbst hervorhebt, mehr ist als ein „Waffenstillstand“ oder eine „Versöhnung“. In ihm drückt sich eine Abkehr von einem agonalen Verständnis intellektueller Schlagabtausche aus, wie sie für die Begegnungen zwischen deutscher und französischer Philosophie in den 1980er-Jahren so eigentümlich waren.

Der Band, der viele in den letzten Jahren verstreut erschienene Aufsätze versammelt, steht unter dem Vorzeichen der Annäherung. Nicht alles kann dabei ausgeräumt werden: etwa das tief sitzende Misstrauen gegen die ästhetische Existenz der Frühromantiker, das Unbehagen an Nietzsche und Heidegger, die prinzipielle Literatur- und Kunstferne des Denkens von Habermas.

Wenn Habermas in dem oben zitierten Aufsatz gegenüber kontextualistischen und poststrukturalistischen Denkformen die „ethische Frage“ ins Zentrum rückt, dann wird eine Gegenposition zu Derrida unübersehbar, die Pointe der Argumentation besteht indes darin, zu zeigen, dass beide auf sehr unterschiedlichen Wegen an den gleichen Kreuzungspunkt gelangen. Habermas sieht diesen Punkt in einer entscheidenden Distanz, die vor Derrida vor allem Lévinas zur Seinsphilosophie Heideggers bezogen hat: Für Heidegger, so Habermas, „manifestiert sich die Seinsgeschichte in einer kontingenten Serie von schicksalhaften, aber überwältigenden Ereignissen“. Dieses Sein ist einsam und sinnlos, es trägt kein Gegenüber in sich, schließt kein unhintergehbares Verhältnis des Ich zu einem Anderen mit ein. Deshalb wird es anders als in der Figur der Alterität von der ethischen Frage nicht wirklich „be-rührt“. Was Habermas anpeilt, ist, seine Theorie der Intersubjektivität mit der Frage des Anderen, wie sie vor allem Lévinas mit großer Entschiedenheit formuliert hat, als wechselseitige Übersetzungen beziehungsweise Lesarten ein und derselben Sache zu begreifen.

Diese Übersetzungsarbeit hat bekanntlich zu überraschenden gemeinsamen intellektuellen Interventionen der beiden ungleichen Philosophen geführt, deren Kern in einer bestimmten Vorstellung von Europa als Tiefenstruktur besteht, das nicht einem plumpen und törichten Antiamerikanismus folgt, sondern sich wohltuend von ihm abhebt, nicht nur von der jeweiligen Regierung. Die Weltsituation mit ihrer misslungenen Dekolonisierung ist Habermas zufolge riskant, und nur ein gemeinsamer politischer Wille kann Europa neben den USA, China, Indien und Japan zu einer weltpolitischen Rolle verhelfen.

In Umkehrung seiner schuldhaften Verstrickungen könnte Europa in dieser neuen Rolle eine Alternative zur neoliberalen Weltwirtschaft US-amerikanischer Prägung und zur gegenwärtigen Machtverteilung in den Vereinten Nationen darstellen. Das ist eine kühne Utopie in utopisch armen Zeiten. Ob etwas von ihr Wirklichkeit wird, hängt auch davon ab, ob es gelingt, den Medienwandel, den Habermas an anderer Stelle des Buches in seiner ganzen Ambivalenz beschreibt, dafür zu nutzen, Europa ins Bild zu bringen. Europa wäre mit Derrida und Habermas die Demokratie, die nationale Grenzen überschreitet.

In seiner philosophischen Tiefenstruktur, ist dieses Europa, ungeachtet unbezweifelbarer antisemitischer Restbestände, jüdisch wie nie zuvor. Das hat nicht nur mit den historischen Ereignissen zwischen 1933 und 1945 zu tun, ist keine bloße Wiedergutmachung, nicht nur eine Abwehr dessen, was Habermas nicht unproblematisch als „neuheidnischen Rückfall“ apostrophiert. Um die ethische Frage stellen zu können, kommt eine jüdisch-christliche Denkfigur ins Spiel, die den Menschen mit einem Gegenüber konfrontiert.

Deshalb lässt sich der Autor auf einen Dialog nicht nur mit dem Meisterdenker der abendländischen Dekonstruktion ein, die er an einigen Stellen erstaunlich positiv kommentiert, sondern spricht auch mit dem theologisch versierten Papst aus Bayern. Ihm mag er politisch und intellektuell letztlich distanziert gegenüberstehen, aber was ihn mit ihm verbindet, ist die Erkenntnis der Bedeutung religiöser Denkmuster. Deshalb kann er sich auch ausgesprochen entspannt zum Thema des Islams in Europa äußern, den er weniger als Gefahr für das aufgeklärte Europa, denn als Stimulus betrachtet, sich geistig zu erneuern.

Nicht länger bildet für Habermas Religion ein prinzipielles Hindernis für eine linke Politik, deren Konturen im Band indes sehr blass bleiben. Das Lob für den Austromarxismus und den linken Pragmatismus Richard Rortys kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fragen zur sozialen Gerechtigkeit, zum Verhältnis von Leistung und Solidarität, Fragen dazu, wie Selbstverantwortung und Verantwortung für den anderen politisch umgesetzt werden können, aus dem Katalog des Philosophen ausgeschlossen bleiben. Besteht nicht die ungeheure theoretische Herausforderung für die traditionelle Linke darin, die prinzipielle Überlegenheit eines säkularen jüdisch-christlichen Konzepts vom Menschen – zu denken ist hier eher an Hannah Arendt und Emmanuel Lévinas als an die katholische Soziallehre – anzuerkennen?

Philosophisch gesprochen, darf Europa nicht hinter Sokrates zurück, sondern muss über ihn hinaus. Mit Jacques Derrida und Emmanuel Lévinas, mit Theodor W. Adorno und Walter Benjamin plädiert Habermas dafür, die „religiöse Vorstellung eines ,Gottes in der Zeit‘ zu übersetzen“, und zwar in eine Ethik des Intersubjektiven beziehungsweise einer Transzendenz des Anderen. Das ist, mit Søren Kierkegaard gesprochen, ein Sprung in den Glauben, der die Macht der Kontingenz, in der es keine zwingenden – ethischen – Gründe gibt, zumindest partiell außer Kraft setzt.

Damit hat sich der Theoretiker der kommunikativen Vernunft weit von früheren Positionen entfernt und sich nicht nur auf den Weg von Hegel zu Kant, sondern auch zu Kierkegaard und Lévinas begeben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2008)

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