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Gehetzte Kunden zwischen Zahnpasta- und Hundefutter-regalen: Olga Flors Zufallsgemeinschaft im Supermarkt. „Kollateralschaden“ – ein spannungsreiches Panorama.

Es gehört zu den klassischen Techniken des modernen Romans, ein Geschehen aus der Sicht verschiedener Beteiligter wiederzugeben und so einen Eindruck von simultaner Uneindeutigkeit zu erzeugen. Die 1968 in Wien geborene und heute in Graz lebende Olga Flor greift dieses vermeintlich vertraute Verfahren in ihrem dritten Roman, „Kollateralschaden“, wieder auf und zeigt eindrücklich, wie sich daraus großes, ungeahntes erzählerisches Kapital schlagen lässt. Eine übergeordnete Stimme strukturiert, was sich in den Köpfen von rund einem Dutzend Menschen abspielt, die an einem Jännernachmittag in einem österreichischen Supermarkt zusammenkommen. Im Minutentakt – so die Kapitelgliederung – lässt sich genau eine Stunde lang verfolgen, wie Gedankenströme hin und her wandern, während die gehetzten Kunden versuchen, sich zwischen Zahnpasta- und Hundefutterregalen zurechtzufinden.

Die Zufallsgemeinschaft derer, die zum Teil biografisch miteinander verbunden sind, umfasst ein breites gesellschaftliches Spektrum: Da sind der obdachlose Horst, der mit Hausverbot bedacht wird und auf Rache sinnt, die Angestellte Doris, die Kalorien zählt und auf der Autobahn in Konfusion gerät, der Pensionist Horst, der an seine vor einer Operation stehende Frau denkt, der Lokaljournalist Erich, der auf bessere Zeiten hofft, die Jugendlichen Mo und Sid, die im Einkaufszentrum als „Sturmläufer“ für Chaos und Aufmerksamkeit sorgen wollen, und die heimliche Protagonistin der Erzählung, Luise, eine auf „europäische Werte“ setzende Politikerin, die sich Hoffnungen macht, mit nationalen Parolen Karriere zu machen. Olga Flor gelingt es, nicht zuletzt dank ihrer sprachlichen Souveränität, bereits nach wenigen Seiten ein spannungsreiches Panorama zu entwerfen.

Rasch zeichnet sich ab, dass das alltägliche Einkaufsgeschehen auf eine Katastrophe zuläuft, auf ein Ereignis, das durch die langsam zu Tage tretende innere Zerrissenheit der Akteure gleichsam vorbestimmt wirkt. Denn je näher der Leser Olga Flors Kundschaft rückt, desto deutlicher zeigt sich, mit welch unsicheren Kantonisten man es hier zu tun hat. Sorgen und Zweifel bestimmen das Tun aller Handelnden, die sich krampfhaft bemühen, im Schein des überbordenden Angebots ein souveränes Bild abzugeben.

Was freilich in den Gehirngängen der Konsumenten abläuft, spiegelt allenthalben einmal ein verstecktes und ein andermal offenes Desaster. Die Hausfrau zittert vor dem trunksüchtigen Gemahl; die Politikerin lebt in der ständigen Furcht, mit missliebigen Privatfotos kontrontiert und von ihren Widersachern ausgebootet zu werden, während die Angestellte längst erkannt hat, dass es nur darum geht, Schutzmechanismen vor Verletzungen aufzubauen: „Dabei machte Doris sich nichts vor, sie wusste, dass sie Angst hatte, wichtig war nur, die Angst handhaben zu können und sich alltagstauglich zuzurüsten.“

Natürlich ist Olga Flors Figurenarsenal tendenziös ausgewählt. Für in sich ruhende Charaktere findet sich zwischen Wurst- und Käsetheke kein Platz; wo immer Selbstbewusstsein zu walten scheint, erweist sich dieses als trügerisches Konstrukt. Von allem und jedem Erniedrigte und Beleidigte schieben ihre Einkaufswägen durch die Gänge, verletzte Individuen, die vor beruflichen oder privaten Einbrüchen stehen und stets das Schlimmstmögliche befürchten. Dennoch ist „Kollateralschaden“ alles andere als ein sozialkritisches Rührstück. Die Genauigkeit des Erzählens und die geschickte Verzahnung von Beobachtung und Gedankenzirkulation machen dieses Buch zu einem gelungenen Prosastück.

Das Kopfkino der Akteure kommt nie zur Ruhe; auf diese Weise entstehen „Ablagerungen, ein Gespinst aus halb abgehakten und ganz angedachten Anknüpfungspunkten“. Jeder ahnt die Fassade des anderen und weiß um seine eigene, kaum aufrechtzuerhaltende Fassade: „So dass es ihr um diese Tageszeit so vorkam, als schleppte sie eine Schicht Stahlwolle mit sich herum,
die jede Bewegung erschwerte und ihr Blickfeld eintrübte. Und innen machte sich endlich das Unbehagen breit, das sie bis hierher klein gehalten hatte – nicht einmal mühsam, ganz selbstverständlich unter all den minutenfüllenden Aufgaben vergraben.“

Der Roman „Kollateralschaden“ zeigt, nicht zuletzt durch seinen überraschenden Schluss, auf welch dünnem Eis sich diese Gesellschaft bewegt. Wiewohl hier und da politische Tagesereignisse – die Bildung populistischer Parteiungen in Österreich, die US-Politik im Irak – thematisiert werden, geht es um unterschwellige Bedrohungen. Kaum eine von Olga Flors Figuren steht auf festem Fundament. Man fürchtet sich vor Arbeitslosigkeit und Krankheit; man ist unzufrieden in Beruf und Partnerschaft; man fühlt sich sozial deklassiert – an allen Ecken und Enden dieser scheinbar funktionierenden Gesellschaft liegen Zündschnüre offen herum, und wie der Roman veranschaulicht, mangelt es nicht an zu kurz Gekommenen, die sofort bereit sind, Detonationen auszulösen.

Dass am Ende ein so genannter Kollateralschaden das Fiasko der emotional aufgeladenen Supermarktstunde ausmacht, gehört zu den herb ironischen Brechungen dieses kühl kalkulierten Romans. Ein formal trockenes Experiment, eine gut gemeinte Sozialanklage – das alles hätte leicht aus dieser Konstruktion werden können, wenn da nicht Olga Flors großes Erzählgeschick wäre, das „Kollateralschaden“ zu einer höchst erfreulichen Lektüre macht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2008)

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