Gummi! Gummi!

„Ich bin nicht der Pausentrottel für neugierige Hexen. Soll sie nur das zahnlose Maul auf-machen, schon ist es um sie geschehen. Ich werde sie erwürgen, dann werde ich die Leiche auf den Seilzug neben dem Haupteingang hochziehen.“ Drei Erzählungen.

Reifnitz am Wörthersee

Vor Maria Wörth schlängelt die Südufer-Straße sich durch ein Waldgebiet. Vereinzelt stehen herrschaftliche Villen in parkähnlichen Gärten am See, dahinter ducken sich Ferienhäuschen an den steilen Berghang. Jedes Jahr zu Fronleichnam verwandeln Zehntausende Golf-GTI-Fahrer aus Deutschland und halb Europa den idyllischen Flecken in ein Tollhaus. Dies nicht deswegen, weil die GTI-Fahrer sich schlecht benehmen und randalieren, sondern weil sie ihre heilige Handlung, ihr Ritual, mit Inbrunst und Ausdauer Tag und Nacht verrichten. Im Zentrum der GTI-Liturgie steht eine Aktion, deren infantiler Name „Gummi! Gummi!“ nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es sich dabei um eine ernsthafte, fast mystische Versenkung des Autofahrers in das Wesen des Fahrens handelt.

„Gummi! Gummi!“ besteht darin, dass der Fahrer sein Gefährt auf Höchsttouren bringt und die Handbremse anzieht, während einige Helfer sich an die Karosserie klammern. Auf das Kommando „Gummi! Gummi!“, das die einen wie einen Schlachtruf brüllen, andere wiederum mit verklärten Augen wispern wie ein Gebet, legt der Fahrer den Gang ein und gibt Vollgas, worauf das Auto, von Bremsen und Helfern zurückgehalten, wie ein bockiger Stier unter grässlichem Aufheulen des Motors über den Asphalt schlingert und dabei lange schwarze Striche zurücklässt. Wenn der Gummi nicht mehr vom Rad auf den Asphalt radiert wird und der schwarze Strich abreißt, geht der Fahrer vom Gas, und der Wagen kommt zum Stillstand. Glücklich, mit leuchtenden Augen steigt der Pilot dann aus, tätschelt zärtlich seinen GTI, sonnt sich im Applaus und den frenetischen „Gummi!-Gummi!“-Rufen seiner Kollegen und verbeugt sich, eine Hand aufs Dach seines Autos gestützt.

Groll war von der Liturgie der GTI-Fahrer tiefbeeindruckt; einen ganzen Tag lang klapperte er die Parkplätze um Reifnitz und Maria Wörth ab, um an den automobilen Gottesdiensten als Beobachter teilzunehmen. Mehrmals wurdeer von den Vertretern desGTI-Ordens gefragt, ob sie mit ihm und seinem Rollstuhl auch „Gummi! Gummi!“ machen sollten. Groll, der anfangs begeistert zugestimmt hatte, zog seine Einwilligung allerdings zurück, als er erfuhr, dass die Reifen nicht mehr als drei Beschleunigungsversuche aushalten. Er musste sich darauf beschränken, dem Treiben der GTI-Fahrer als Zaungast beizuwohnen.

An der Auffahrt zum Gustav-Mahler-Studierhäuschen bot ein kleiner Parkplatz Raum für höchstens sieben oder acht Autos. Und hier erlebte Groll das erstaunlichste „Gummi!-Gummi!“-Opfer des Tages. Ein junger Mann aus Bochum, der bereits mehrere Versuche hinter sich hatte, ließ sich von seinen Freunden nicht zum Aufhören überreden. Ein letztes Mal noch wollte er es allen zeigen. Der Motor heulte auf, die Freunde hielten den Wagen fest, die Bremsen quietschten, blauer Rauch stieg auf, und der Wagen sprang einige Meter vorwärts. Die Reifenspur riss ab, einige Helfer wandten sich ab, doch Groll ließ keine Sekunde von dem GTI, ihm war der umwölkte Blick des Fahrers aufgefallen, bevor er in den Wagen eingestiegen war. Groll spürte, dass etwas Ungewöhnliches geschehen werde, und so war es auch. Sei es, dass der Fahrer die Bremse ausließ oder ein Defekt auftrat, der Wagen schoss wie eine Raubkatze aus dem Parkplatz auf die Straße, schlingerte, noch immer beschleunigend, einige Dutzend Meter eine Hecke entlang, durchbrach eine hölzerne Absperrung, hob dann in einem großem Bogen ab und knallte mit der gesenkten Schnauze zuerst in den tief unten liegenden Wörthersee. Der Wagen hielt sich noch kurz über Wasser und versank dann sehr rasch, wirbelnde Luftblasen an der Oberfläche zurücklassend.

Groll löste sich als erster von dem Schock. „Gummi! Gummi!“, rief er und streckte die geballte Faust gen Himmel.


Mautern, Panzerkaserne

Die Geschichte ereignete sich vor vierzig Jahren auf der Bundesstraße von St. Pölten nach Krems. Damals gab es die Autobahnbrücke über die Donau noch nicht, der Schwerverkehr wälzte sich in übel riechenden Wolken den steilen Göttweiger Berg hinauf. Zwischen Furth und Mautern führte die Straße über freies Feld, vorbei an der Mauterner Panzerkaserne, und durchschnitt das dazugehörige Übungsgelände. Groll war ein Bub von fünf Jahren und spielte vor der Kasernensiedlung im Freien, als er ein schrilles Quietschen hörte, das plötzlich erstarb und dem ein dumpfer Knall folgte. Dann war lauter Motorlärm zu hören, als würde eine Maschine bei Vollgas stecken geblieben sein. Groll rannte und stolperte über das von Panzerketten zerfurchte und mit Regenwasser getränkte Manövergelände, seine Beine versanken bis über die Knie im Dreck. Er wusste, dass zu Hause ein Donnerwetter folgen würde, aber der Motor heulte immer noch, und nichts in der Welt hätte ihn aufhalten können, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Außer Atem und über und über mit Schlamm bespritzt, erreichte er die Bundesstraße auf Höhe der Kaserne. Ein roter Sportwagen hatte sich mit der Schnauze in eine Alleepappel gebohrt, die Motorhaube setzte sich rechts und links des erstaunlich unversehrten Baums ein ganzes Stück fort, als würde sie den Baum am liebsten ins Auto einsteigen lassen und mit ihm fortfahren. Obwohl der Motor heulte, war es ein friedliches Bild, denn auf den Vordersitzen des roten Sportwagens saßen ein älterer Mann und eine wesentlich jüngere Frau und schienen zu schlafen. Die beiden müssen ganz schön müde sein, dachte Groll, bei dem Lärm schlafen zu können, muss ihnen erst einer nachmachen.

Der Mann war schmächtig und hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit einem kleinen Oberlippenbärtchen. Und seltsamerweise war das Bärtchen dunkel, fast schwarz, während das Haar des Mannes an den Schläfen weiß und lang war. Am Mittelschädel hatte er überhaupt keine Haare mehr, aber die Haut war stark von der Sonne gerötet. Der Kopf des Mannes war seiner Beifahrerin zugeneigt, und es schien, als sei der Mann mitten in einem Satz eingeschlafen. Die Frau hatte volles dunkles Haar,und sie trug eine weiße Sportkappe. Die Augen waren geöffnet, und sie starrten in die Ferne, in die Wachau, wie Grollfeststellte, als er demBlick folgte. Die Wachau, das wusste Groll
damals schon, ist sehrschön. Es war also klug von der Frau, in diese Richtung zu schauen, dachte Groll. Seltsam fand er nur, dass aus der Nase und den Ohren der Schlafenden kleine rote Schnüre hingen, und als er näher ging, um die Schnüre zu entfernen, die die Frau sicher stören mussten, sah er, dass die Schnüre tropften.

Endlich waren auch Männer von der Kaserne gekommen. Sie wollen das schöne rote Auto und die schlafenden Menschen bewundern, dachte Groll, und mit einer einladenden Handbewegung wies er auf den Sportwagen, als würde er ihn den Soldaten vorstellen. Die erwiesen sich aber als gar nicht höflich und zogen Groll unsanft zurück. Sie rissen die Tür auf und fielen über die beiden Schlafenden her, als gönnten sie ihnen den Schlaf und das schöne rote Auto nicht, was Groll allerdings verstehen konnte, denn er hätte auch gern gehabt, dass sein Vater mit einem schnittigen Flitzer mit ihm an der Seite durch die Wachau sausen könnte. Aber Grolls Vater, der als Konstrukteur bei den Voith-Werken in St. Pölten arbeitete, hatte es nur zu einer launischen Renault Dauphine gebracht, mit der er jeden Tag in die Arbeit fuhr und die in jedem Regen stehen blieb, ein Kleinwagen mit einem Hintern wie ein Baby, und so war auch seine Farbe. Babyblau. Meistens aber war er dreckig, dann war er grau.

Irgendjemand hatte Groll ein paar Meter ins Manövergelände zurückgetragen und in einer tiefen Panzerfurche abgestellt. Ein gelber Kastenwagen war jetzt eingetroffen, und ein Mann in einem weißen Kittel kümmerte sich um die beiden Schlafenden, die man neben dem Wagen ins Gras gelegt hatte. Es gefiel Groll, dass die beiden beschlossen hatten, weiterzuschlafen. Er an ihrer Stelle hätte genauso gehandelt. Dann sah er nichts mehr, weil immer mehr Soldaten in ihren froschgrünen Uniformen den Wagen umringten, und irgendwann hörte auch das Heulen des Motors auf. Groll wartete noch, bis man die beiden Schlafenden auf Betten gelegt und in den gelben Kastenwagen geschoben hatte. Er fand es schade, dass man die beiden nicht weiter in dem roten Auto schlafen ließ. Wenn sie ausgeschlafen wären, würden sie sich die Augen reiben und weiter in die schöne Wachau fahren. So steckten sie in dem hässlichen Kastenwagen und würden von der Wachau einen schlechten Eindruck kriegen. Traurig stapfte Groll durchs Manövergelände nach Hause.


Lébény, Ungarn
Ein paar Kilometer nach Mosonmagyaróvár ragen zwei mächtige Steintürme aus dem kis alföld, der Kleinen Tiefebene. Wehrhafter sind Kirchen nie gebaut worden, dachte Groll, wenn er auf dem Weg ins Donauknie an den Türmen vorbeifuhr. Einmal kommt der Tag, da werde ich im Schatten der Türme rasten, nahm er sich bei jeder Fahrt vor.

Eines Tages im Hochsommer war es so weit. Groll bog von der Autobahn ab, nahm zuerst eine Bundes-, dann eine Komitatsstraße und schließlich eine holprige Landesstraße, die durch einen lichten Eichenwald führte. Er parkte hinter der Kirche, holte den Rollstuhl aus dem Wagen und ignorierte dabei die neugierigen Blicke einer alten Frau, die auf der anderen Straßenseite am Fenster lehnte. Wenig später saß Groll im Schatten der romanischen Türme und bewunderte die Rigorosität des Baus. Das dreischiffige Gebäude mit den Turmquadern und den halbzylindrischen Chören wirkte durch seine glatten Flächen aus ockerfarbenen Quadersteinen wie ein gestrandetes Kriegsschiff. Der Kontrast zum reich verzierten Hauptportal, dessen steinerne Ornamentik von heidnischen Fabelwesen erzählte, konnte größer nicht sein.

Als er den Kopf senkte, weil er Nackenschmerzen vom Hinaufschauen hatte, sah Groll die Alte, gestützt auf ein rostzerfressenes Rad, auf sich zukommen. In wenigen Augenblicken würde sich das verschossene Kopftuch vor ihm aufpflanzen, und die alte Leier würde wieder losgehen: Warum er im Rollstuhl sitze? Sie kenne auch einen Mann, der im Rollstuhl gesessen sei, aber der sei nach wenigen Jahren gestorben. An Trunksucht, der Arme. In welchem Heim Groll denn lebe? Ob er noch Eltern habe, und so fort. Aber dieses Mal, schwor Groll bei sich, werde ich die Fragen im Keim ersticken. Ich bin hierhergefahren, um die Stille zu genießen und die Kirche zu studieren. Ich bin nicht der Pausentrottel für neugierige Hexen. Soll sie nur das zahnlose Maul aufmachen, schon ist es um sie geschehen. Ich werde sie erwürgen, dann werde ich die Leiche auf den Seilzug neben dem Haupteingang hochziehen, und sie wird das architekturgeschichtlich wertvolle Portal noch berühmter machen, denn dann werde ich ins Wirtshaus unten an der Straße rollen und werde aufgeregt deuten, und man wird mitgehen und wird die Alte baumeln sehen. Die Polizei wird gerufen, die Feuerwehr wird die Leiche bergen, der Gemeindearzt wird sie beschauen und die lokale Fernsehstation wird alles filmen.

Und ich werde bereitwillig Auskunft geben, gegen eine kleine Gage, versteht sich, über den Schock, den ich hatte, als ich der Alten ansichtig wurde, und wie der Schock noch größer geworden sei, als sie, die Erhängte, mich fragte, warum ich im Rollstuhl sitze, und dass mir das zu denken gegeben habe, denn das sei nicht in Ordnung, dass Tote sprechen, schon gar nicht, wenn sie über einem Kirchenportal hängen. Und dann würde ich die Stätte zu meinem Schicksalsort erklären und bleiben. Würde einen Devotionalienstand mit angeschlossener Ausschank aufmachen und würde vom einsetzenden Touristenboom profitieren, und wenn das Geschäft nachlassen sollte, würde ich weiterfahren, in den Schatten einer anderen berühmten Kirche, und auch dort würde sich eine neugierige Vettel finden, die man hochziehen könnte. Groll malte sich seine Zukunft in den schönsten Farben aus.

Die Alte war jetzt stehen geblieben. Sie lehnte das Rad an die Rückseite der Bank und setzte sich ans andere Ende. Sie sprach kein Wort. Nach einiger Zeit holte sie aus ihrer Schürze ein speckiges Holzbrett, ein Messer und ein Stück scharfer Klobasse. Vom Gepäckträger fischte sie eine Flasche Hauswein und ein paar grüne Spitzpaprika. Bald saßen die beiden, Groll und die Alte, einträchtig im Schatten der hohen Türme und taten sich an der Wurst und an dem fruchtigen Wein gütlich. Die ganze Zeit über sprach die Alte kein Wort. Groll wollte der Frau in höflichen Worten danken, aber er beherrschte sich.

Was für ein schöner, angenehmer Nachmittag, dachte Groll nach zwei Gläsern, und nach zwei weiteren war er davon überzeugt, dass der Ort heilig sein müsse, und er trug sich ernsthaft mit dem Gedanken, in einen Orden einzutreten. Noch immer sprach die Alte kein Wort, und Groll war sehr beschämt. Da riss ein Geräusch ihn aus seinen Träumen. Die Alte hatte mit ihren kräftigen Zähnen so herzhaft in einen Paprika gebissen, dass eine Taube, die auf dem Hauptschiff der Kirche Platz genommen hatte, erschreckt aufflatterte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2008)

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