Brief an den Staatsanwalt

„Ich bereue. Zutiefst.“ Aus einer forensischen Novelle.

Nun. Ich bin nicht vorbestraft und war anständig. Ich gebe zu, dass ich mich dann auf etwas eingelassen habe, das mir wesensfremd ist. Und Ihnen natürlich auch. Aus anderen Gründen. Ich habe damit den, wie man so sagt, rechten Weg, aus dem ich zu einem Teil mein Wesen geschöpft habe, verlassen. Ich bin abgekommen. Ich bin gestrauchelt. Ich habe mich im Dickicht der Gebote und Gesetze verheddert. Ich habe. Nun bin ich verwickelt. Ich habe zu wenig gedacht. Vor und nach. Ich war ausschließlich vordergründig. Ich war im Angesicht der Vernunft einer ihrer übelsten Stümper. Und Pfuscher. Ich bin an einem Ort angekommen, der nie mein Ziel sein sollte. Ich bereue. Zutiefst. Es tut mir leid. Am liebsten würde ich es ungeschehen machen. Vor allem, um mit Menschen, wie Sie es sind, nicht zusammengeraten zu müssen. Jetzt bin ich – als ein vom Weg Abgekommener – plötzlich in Ihre Gasse geraten, über die Sie hüten wie der schärfste Wachhund, vor dem sogar die Tafel, die ihn ankündigt, nein, die scharf vor ihm warnt, schlottert. Anderswo wanken die Tafeln vor den Hunden, den wirklich üblen.

Nie hätte ich gedacht, dass ich so weit komme. Oder so kurz. Nie. Und jetzt bin ich da. Und schreibe Ihnen, der mir sonst nie und nirgends in den Sinn gekommen wäre, einen mehr oder weniger persönlichen Brief. Nicht zur Entschuldigung oder Ent-Schuldigung. Zu Ihrer Aufklärung. Zu Ihrer Besinnung. Damit Sie umdenken. Wenn Sie dazu fähig sind. Und nicht nur des Anklagens, Verurteilens und Verdammens. Sie sollten es sein. Ihr Gesetz, das zur Gänze ja auch meines ist, verpflichtet Sie dazu. Wer dagegen verstößt, macht sich schuldig, was um vieles schwerer wiegt als mein kleines Vergehen. Meine geradezu schuldausschließende Übertretung.

Dieser Fehltritt, den ich bewusst nicht Entgleisung nenne, zumal ich, wie ich zugebe, von meinem Weg, das heißt wohl, Gleis, abgekommen bin. Abgerutscht. Ausgerutscht. Ausgeglitten. Und ausgelitten.

Wie oft hieß es für mich: Aus. Ende. Schluss. Und wie selten wohl für Sie. Trotzdem bin ich aufgestanden. Auf. Ich wollte, nein, ich musste der gesellschaftlichen Vernichtung entgehen. Die Kraft, und wie viel von ihr ich gebraucht habe, verbraucht eigentlich, habe ich schon erwähnt. Viel Kraft. Um zu überleben. Weiterzumachen. Nicht aufzugeben nach dem Ausgleiten. Anders hätte ich mich in das endgültige Ende geworfen. Und wäre der Verworfene. Der Verdorbene.

Sie werden es nicht wissen, aber die Denker haben festgestellt, der Mensch werde durch eine Reihe bestimmter Ereignisse verdorben, ohne es zu wollen. Denn der Mensch hat Schwächen, schon zu der Zeit, in der sein Entwicklungsgang noch nicht festgelegt ist. Er ist bestimmten Antrieben ausgesetzt, die ihre Wirkung so oder so entfalten können. Und manchmal wünsche ich mir jetzt, es gäbe die Zeit nicht, sondern nur einen gleich bleibenden Zustand. Einen Zustand der Freiheit. Oder der Schuldlosigkeit. Diesen vor allem. Und überhaupt die Losigkeit. Wie etwas Heiliges.

Aber wer fragt, was mich verdorben hat. Wer befundet. Befindet. Findet. Wer will es überhaupt. Sie nicht. Sie wollen nur das eine, Sie wollen den Gehetzten, der schließlich vor Ihnen liegt und um Gnade wimmert. Um ein mildes Urteil, das Sie nicht bekämpfen mögen. Und dabei die Hände faltet. Wie vor einer Macht.

Ich will gar nicht in ein Verfahren verstrickt werden, ich will bereits vorher diesem undurchsichtigen Gestrüpp entfliehen. Diesem Unterholz. Diesem Gebüsch. Ich will Verständnis und Freiheit. ■


Janko Ferks forensische Novelle „Brief an den Staatsanwalt“ erscheint Mitte Oktober in der Edition Atelier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.