Verbannt nach Linz

Ein Ungar in Österreich. Vom Rand her stößt László Márton ins finstere Herz des vormärz-lichen Habsburgerreichs: „Das Versteck der Minerva“ – ein Lehrstück über den Absolutis- mus österreichischer Prägung.

Die französische Revolution und die von ihr ausgelöste Zeitenwende hinterließen nicht nur im josephinischen Wien Folgen, die den restaurativen Kräften der Dynastie schlaflose Nächte bereiteten. Auch in Ungarn reifte im Schoß des Magnatenadels eine radikale Opposition zum Metternichschen Polizeistaat heran. In konspirativen Vereinigungen und Geheimgesellschaften aller Art wurden Umsturzpläne gewälzt, die der Herrschaft der Habsburger ein Ende machen sollten.

Hunderte tatsächlicher und vermeintlicher Feinde der Dynastie wurden in den gefürchtetsten Kerkern der Monarchie wie dem Spielberg in Brünn oder der Festung Kufstein zum Teil jahrzehntelang festgehalten. Viele der idealistischen Hitzköpfe hauchten ihr Leben in den feuchten Verliesen aus. Mit we- nigen Ausnahmen sind ihre Namen heute auch in jenen Staaten, die jetzt bürgerliche Freiheiten genießen, vergessen. Dennoch gilt: Die vormärzliche Monarchie war nicht so gemütlich, wie so mancher nostalgische Historiker uns weismachen will. Das Wort vom „Völkerkerker“ konnte nur dadurch zum geflügelten werden, weil ihm ein wahrer Kern innewohnte.

Vor diesem historischen Hintergrund siedelt der ungarische Schriftsteller László Márton eine kleine Geschichte an, die vom Stofflichen her nur eine Provinzposse hätte ergeben können, durch die souveräne Hand des Autors aber zu einem vergnüglichen und spannenden Lehrstück über die Realverfassung der absolutistischen Monarchie befördert wird.

Ein junger, von den Ideen der französischen Aufklärung begeisterter ungarischer Intellektueller, János Baronczi, saß ab 1795 einige Jahre in Kufstein ein und machte dort die Bekanntschaft eines französischen Revolutionärs namens Maret. 1809 zieht Napoleon in Wien ein, in seinem Gefolge befindet sich auch Bürger Maret, er ist zum Außenminister avanciert. Für seinen Mithäftling und Freund verfasst der Ungar die „Schönbrunner Proklamation“ des Jahres 1809, einen leidenschaftlichen Aufruf an die junge ungarische Nation, in der Napoleon die Ungarn auffordert, es Frankreich gleichzutun, die Fürstenherrschaft abzuschütteln und der bürgerlichen Freiheit eine Gasse
zu schlagen. Zumindest die Behörde hält
Johann B. für den Verfasser. Tatsächlich konnte die Autorschaft nicht bewiesen werden und Johann B. wurde mangels an Beweisen nicht verurteilt, wohl aber verhaftet und wieder eingekerkert. Danach verbannte man den Unglücklichen für 30 Jahre nach Linz an der Donau. Nur innerhalb der engen Provinzstadt durfte er sich frei bewegen, jeglicher Verstoß hätte lebenslangen Kerker nach sich gezogen.

Der greise Polizeiminister Graf Sedlnitzky, von Kanzler Metternich einerseits umsichtig gefördert, andererseits aber abschätzig als „Hausmeister des Reiches“ tituliert, gab Anweisung an den Linzer Polizeidirektor, den einstigen Rebellen, jetzig korrespondierendes Mitglied der Pariser Gelehrtengesellschaft, Tag und Nacht zu überwachen. Johann B.s wenige Bekanntschaften wurden ebenso observiert wie die monatlichen Ausgänge seiner in der Ehe verbitterten Frau zu einem angesehenen Linzer Bürger, der Johann B.s kleine Rente, die er aus Frankreich bezieht, in einheimische Währung umtauscht. An eine letzte Reise ins heimatliche Ungarn wagt der Verbannte nicht einmal zu denken. Aber selbst wesentlich geringfügigere Wünsche finden keine Gnade vor den Augen der Behörde; die totalitäre Grausamkeit des Regimes stumpft nicht ab. Als der frühzeitig gealterte Johann B. im Jahr 1844 an den Polizeidirektor von Linz eine Petition richtet, in der die Genehmigung für eine bloß eintägige Reise nach Wien erbeten wird – sie sollte einem alten, schwerkranken Freund, Professor der Kupferstichklasse an der Wiener Kunstakademie, gelten –, wird die Bitte rundweg abgeschlagen.

Der Zufall will es nun, dass ein freigeistiger ungarischer Magnat aus dem fernen Osten der Tiefebene in die oberösterreichische Landeshauptstadt verschlagen wird. Nicht nur der Sicherheitsapparat von Linz ist in heller Aufregung, auch die Wiener Behörden sind alarmiert. Wird der irredentistische Ungar Kontakt mit dem seit Jahrzehnten unter Hausarrest stehenden einstigen Aufrührer suchen? Werden die beiden die Stirn haben, unter den Augen der niemals ruhenden Behörde einen Komplott gegen Kaiser und Vaterland zu schmieden?

Kunstvoll breitet der in Budapest als Literaturwissenschaftler und Soziologe ausgebildete Autor seine Geschichte am Rande der großen Historie zu einem Panorama des provinzstädtischen Lebens in der Metternichschen Epoche aus. Liebevoll und präzis folgt er seinen Figuren, beschreibt die Welt der ehrbaren Handwerker und verschrobenen Buchhändler, der allgegenwärtigen Spitzel und freigeistigen Bezirkshauptmänner, die lieber mit einem zahmen Flussotter das Bett teilen als mit der allzu temperamentvollen Angetrauten. Die Episoden aus dem Leben des Linzer Gefangenen sind von einem feinen Witz durchzogen, der durch eine Prise pannonischer Schwermut noch veredelt wird. Ein literarisches Bravourstück. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2008)

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