Horváths Gebeine

„Der Drogenhund schnüffelte am Kindersarg und fing sofort an zu bellen. Verzweifelt erklärte der Übersetzer dem Major, dass sich in diesem Kästchen keine Drogen, sondern Horváths Gebeine befänden.“ Eine Erzählung.

Beinahe jeder Literaturfreund weiß,dass der Dichter Ödön von Horváth im Jahre 1938 in Paris von einem herunterstürzenden Ast erschlagen wurde. Schon weniger wissen, dass sich in der Tasche seines Sakkos Pornohefte befanden. Offensichtlich ging es ihm damals finanziell so schlecht, dass er mit dem Verkauf der Heftchen versuchte, ein kleines Zubrot zu verdienen. Noch weniger wissen, dass Horváths Freund, der Dichter Joseph Roth, welcher die Totenrede auf Horváth hielt, beim Begräbnis so besoffen war, dass er in die offene Grube fiel. Nach seinem Tode geriet Horváth literarisch in Vergessenheit, erst in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wurde er eine Berühmtheit.

Da man in Österreich alles hochlebenlässt, was hinlänglich tot ist, beschloss der Wiener Gemeinderat 1988, also 50 Jahre nachdem Tode Horváths, diesem ein Ehrengrab auf dem Heiligenstädter Friedhof in Wien zuerrichten. Der Beschluss erfolgte einstimmig,auch die äußerste Rechte stimmte zu. Diese wusste zwar nicht, wer Horváth war, auch kam ihren Abgeordneten der Name „Ödön von Horváth“ ziemlich ausländisch vor, aber das „von“ machte sie doch etwas unsicher und erwirkte letztendlich ihre Zustimmung.

Die Österreichische Botschaft in Paris wurde mit der Exhumierung der Horváthschen Überreste – diese lagen auf einem Vorstadtfriedhof von Paris namens St.Ouen – und mit der Überführung der Gebeine nach Wien beauftragt. Da die Österreichische Botschaft zu diesem Zeitpunkt von allerlei bilateralen Geschäften sehr in Anspruch genommen war, übertrug sie diese Aufgabe dem französischen Übersetzer von Horváth, einem sehr verlässlichen Herrn, der zwar Österreicher war, aber schon einige Jahrzehnte in Frankreich lebte. Sieübergaben ihm eineReihe von Vollmachten und drei Kisten der österreichischen Weinsorte „Grüner Veltliner“ für die „freundliche Mühewaltung“, wie sich der Erste Botschaftssekretär gegenüber dem Übersetzer ausdrückte.

Der Übersetzer sprachbei der Friedhofsverwaltung von St.Ouen vor, diese war jedoch von den Vollmachten und seinem Begehren wenig beeindruckt undverwies ihn an einen Totengräber, der eventuell gegen Überlassung eines Trinkgeldes bereit wäre, sich auf die Suche nach Horváths Gebeinen zu machen.

Der Totengräber erwies sich als veritabler Alkoholiker und war sofort bereit, für drei Kisten „Grünen Veltliner“ alle möglichen Gebeine herbeizuschaffen, auch die von Horváth. Der Übersetzer, der mehr dem französischen Rotwein als dem österreichischen Veltliner zugetan war, hatte ihm Letzteren freimütigst angeboten.

Der Deal „Grüner Veltliner“ gegen Horváths Gebeine fand am nächsten Tag statt. Der Übersetzer übergab dem Totengräber die drei Kisten Wein, und der Totengräber übergab dem Übersetzer ein paar Knochen, die in Zeitungspapier eingewickelt waren. „Mehr ist von diesem Horváth nicht übrig“, murmelte der Totengräber auf den fragenden Blick des Übersetzers und verwies ihn für alles Weitere an die Friedhofsverwaltung.

Sowenig Interesse die Friedhofsverwaltung von St.Ouen an irgendwelchen schweißtreibenden Grabungen gehabt hatte, so penibel und nachdrücklich beschäftigte sie sich jetzt mit dem Ergebnis der Grabung. Ein Beamter trug jeden einzelnen Knochen in eine Liste ein und versah ihn mit der jeweiligen lateinischen Bezeichnung. Oberer Schädelteil mit Kopfloch, ohne Unterkiefer. Dritter Halswirbelknochen, corpus columnae vertebralis cervicalis III. Linkes Schlüsselbein, os clavicularis sinistra. Schambein, os pubis. Rechter Oberschenkelknochen, femur dexter. Zweiter Mittelfußknochen, os metatarsale secundum. Speiche, radius. Neunte Rippe, costa IX. Das also waren Horváths Gebeine: ein halber Schädel mit einem Loch und sieben vereinzelte Knochen.

In Anbetracht der geringfügigen Menge an Überresten reiche ein Kindersarg, sagte der Friedhofsbeamte, gab die paar Knochen in eine kleine schwarze Holzkiste und versiegelte diese. Er überreichte dem Übersetzer eine Transportgenehmigung mit sechs Stempeln und verrechnete für seine „Mühewaltung“ einen enorm hohen Betrag, den er ohne Quittung kassierte.

Zwei Tage später flog der Übersetzer mit dem Kindersarg im Handgepäck nach Wien, versehen mit einem Begleitschreiben der Österreichischen Botschaft, dass alles rechtens und in Ordnung sei. Bei der Zollkontrolle am Flughafen Wien-Schwechat musste der Übersetzer routinemäßig sein Gepäck öffnen und erklärte den beiden Zollorganen, dass es sich bei diesem kleinen schwarzen Kasten um einen Kindersarg handle, in welchem sich die Gebeine des berühmten Dichters Ödön von Horváth befänden. Die Zollorgane sahen einander an und verständigten telefonisch ihren Vorgesetzten, einen Major der Zollfahndung, der alsbald mit einem Drogenhund erschien. Der Drogenhund schnüffelte am Kindersarg und fing sofort an zu bellen. Verzweifelt erklärte der Übersetzer dem Major, dass sich in diesem Kästchen keine Drogen, sondernHorváths Gebeine befänden und dass er jederzeit ein Schreiben der ÖsterreichischenBotschaft in Paris vorweisen könne. DiesesSchreiben wollte derMajor gar nicht sehen.Er sagte, dass er schon viele Ausreden von Dealern gehört hätte, aber diese sei eindeutig die absurdeste. Er erbrach die Versiegelung des Kindersarges,öffnete ihn, der unaufhörlich bellende Hund steckte seinen Kopf inden Sarg, schnapptesich einen Knochen und rannte, zufrieden jaulend, davon. Es war übrigens das linke Schlüsselbein, os clavicularissinistra, um welches die ohnehin nicht sehr zahlreichen Horváthschen Gebeine vermindert wurden.

Ungefähr eine Viertelstunde später und begleitet von dem sich ständig entschuldigenden Major der Zollfahndung, betrat der Übersetzer mit dem Kindersarg unter dem Arm den Platz vor dem Flughafenausgang. Auf diesem Platz parkte der Prachtwagen der Wiener Städtischen Bestattung, ein großes Automobil im Stile der 1940er-Jahre, in hochglänzendem Schwarz, mit blitzender Chromverzierung. Neben diesem städtischen Luxusmodell stand der oberste Bestattungsbeamte, ein wirklicher Hofrat, der nur erschien, wenn dem Toten ein Ehrengrab winkte. Neben dem Hofrat stand der Verleger der Horváthschen Theaterstücke, ein Mann mit einem besonders auffälligen Schnurrbart. Als die beiden Herren den Kindersarg unter dem Arm des Übersetzers wahrnahmen, verfielen ihre Gesichter. Von der Österreichischen Botschaft in Paris telefonisch verständigt, dass nunmehr die Überführung der Horváthschen Gebeine in einem Flugzeug der Austrian Airlines vonstattengehen würde, hatten die beiden mit allem gerechnet: mit einem Zinksarg, auf dem die österreichische Fahne lag, mit einem schlichten, aber teuren Eichensarg oder was auch immer der Bedeutung des Toten angemessen wäre, aber sicher nicht mit einer kleinen schwarzen Holzkiste, die sich unter dem Arm eines Übersetzers befand. Der wirkliche Hofrat stieg wortlos in den glanzvollen Totenwagen, gab dem Chauffeur ein Zeichen und entschwand. Der Verleger nahm die kleine Holzkiste in Empfang, ließ sich vom Übersetzer alles erklären und nahm das Ganze von der heiteren Seite. Der Übersetzer war froh, Horváths Gebeine endlich loszuwerden, und nahm die nächste Maschine zurück nach Paris.

Der Verleger versuchte in den nächsten Tagen, von der Gemeinde Wien einen Termin für die offizielle Beisetzung von Horváth in einem Ehrengrab zu bekommen, aber die Beamten legten sich nicht fest. Der Bürgermeister der Stadt Wien erwäge sein Erscheinen, und da müsse man sich selbstverständlich nach ihm richten. Der Verleger stellte den schwarzen Kindersarg in ein Regal seines Büros. Nachdem jedoch einige Mitarbeiter und Besucher mit irritierten Blicken auf das schwarze Kästchen geschaut hatten, nahm er die Gebeine heraus und legte sie in eine unauffällige Schuhschachtel.

Drei Tage später – der Verleger hatte täglich nachgesehen – war die Schuhschachtel leer und der Verleger in Panik. Es stellte sich schnell heraus, dass die polnische Putzfrau den Inhalt der Schachtel in eine Mülltonne geleert hatte, im guten Glauben, dass alte Knochen in einem Verlagsregal nichts zu suchen hätten. Der Verleger und die leitenden Angestellten untersuchten die Mülltonne auf das Penibelste und konnten bis auf zwei Stück alle Horváth-Gebeine wiederfinden. Nur das Schambein, os pubis, und der zweite Mittelfußknochen, os metatarsale secundum, blieben unauffindbar. Der Verleger urgierte auf das Dringlichste bei den zuständigen Beamten der Gemeinde Wien, doch endlich einen Begräbnistermin zu nennen, aber die Beamten mahnten ihn zur Geduld und beschieden ihn, dass sich die Geliebte des Bürgermeisters, eine Balletteuse, kurz vor ihrer Premiere den zweiten Mittelfußknochen, os metatarsale secundum, verstaucht hätte, und in dieser Situation sei der Bürgermeister nicht ansprechbar. Der Verleger brachte die Schuhschachtel mit Horváths Gebeinen in die Verlagswohnung, in der immer wieder Gäste des Verlages nächtigten, und verstaute sie unter dem Bett.

Ein paar Tage später übernachtete der renommierte Germanist C.W. Stauber, ein ausgewiesener Horváth-Experte, in der Verlagswohnung. Der Verleger zeigte ihm das Gästebett und machte ihn mit einem Lächeln und einem Anflug von Angeberei auf das Besondere der Situation aufmerksam. Er, der berühmte Horváth-Experte, würde über den echten Gebeinen des Dichters nächtigen.

C.W. Stauber machte in dieser Nacht kein Auge zu. Immer wieder stellte er sich vor, wie er beim nächsten Horváth-Symposion, attackiert von seinen besserwisserischen Kollegen wegen einer angeblich unpräzisen Fußnote, in seine Tasche greifen und einen echten Horváth-Knochen triumphierend hochhalten würde. Die Kollegen würden vor Neid erblassen, und er wäre die unangefochtene Nummer eins der Horváth-Forschung.

Am nächsten Tage, C.W. Stauber war gerade abgereist, bemerkte der Verleger bei einem kontrollierenden Blick in die Schuhschachtel das Fehlen eines weiteren Horváth-Knochens, des rechten Oberschenkelknochens, femur dexter. Damit waren Horváths Gebeine, vom unvollständigen Schädel mit dem Loch abgesehen, auf drei verbliebene Stücke reduziert worden.

Nach drei Wochen – Horváths Restgebeine lagen noch immer in der Schuhschachtel unter dem Verlagsbett, die Verlagswohnung war jedoch abgesperrt worden und für absolut niemanden zu betreten – war es endlich so weit: Die Balletteuse des Bürgermeisters hatte ihre Premiere hinter sich, für den Einsturz einer Donaubrücke konnten höhere Mächte und nicht die Rathausmafia verantwortlich gemacht werden, und der Bürgermeister hatte endlich Zeit für Horváths Begräbnis.

Es war ein ergreifendes Ereignis. Das sogenannte kulturelle Wien stand in unübersehbarer Zahl zwischen den Grabsteinen des Heiligenstädter Friedhofes, der prachtvolle Sarg mit den letzten drei Horváth-Knochen und dem halben Schädel wurde langsam in die Grube des Ehrengrabes gesenkt. Das Schluchzen der sogenannten „Witwe Horváth“, die Horváth nie gekannt hatte, weil sie erst Jahre nach seinem Tode den Bruder von Horváth geheiratet hatte, war über den ganzen Friedhof, ja über ganz Wien zu hören, und auch der Bürgermeister, dem alle Kunstsparten, Theater, Oper und Ballett am Herzen lagen, ließ sich ein paar Tränen nicht nehmen.

Horváths Gebeine, oder jener Rest, der davon übrig geblieben war, fanden nun ihre ewige Ruhe. Oder ewige Unruhe: Denn Horváths Ehrengrab ist nur 16 Meter von einem Heurigen entfernt, in welchem sich vom frühen Nachmittag bis spät in die Nacht alles versammelt, die Lügner und die Spieler, die verstörten Frauenherzen und die angeberischen Verführer, die Hoffenden und die Hoffnungslosen, die Trinker und jene, die bald ertrinken werden. Es stimmt, was der Bürgermeister in seiner Grabrede sagte: Ödön von Horváth ist endlich zu Hause. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2008)

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