Armee, Alkohol, Ankara

Wer war Mustafa Kemal? Der als „Atatürk“ in die Geschichte eingegangene Politiker wird von Klaus Kreiser distanziert, aber umfassend porträtiert. Nur über das Familienleben erfährt man wenig.

Rechtzeitig zum Türkei-Schwerpunkt in diesem Herbst hat Klaus Kreiser (emeritierter Professor für Türkologie an der Universität Bamberg) eine Biografie von Mustafa Kemal, der später den Ehrennamen Atatürk als Familiennamen annahm, vorgelegt.

Es ist eine sehr sachliche, neue Quellen nützende Arbeit, die den Begründer der modernen Türkei der Legenden entkleidet, die sich schon zu Lebzeiten immer dichter um ihn gerankt haben. Seine Größe, aber auch die Schatten, die diese geworfen hat, sind Gegenstand der Betrachtung sowie der Reflexion, die vom distanzierten Blick des Biografen profitieren.

Jeder, der wissen möchte, wann Atatürk wo was getan oder erlitten hat, kann sich schon an den Kapitelüberschriften, die jeweils mit Jahreszahlen und geografischen Angaben versehen sind, orientieren. Das hat den Vorteil, dass man nicht immer gleich in der hilfreichen und ausführlichen Zeittafel oder im Geografischen oder im Personenregister nachschlagen muss. Im Literaturverzeichnis ist nicht nur die verwendete Literatur vermerkt, sondern dem jeweiligen Werk ist auch eine Charakterisierung beigefügt, was eine weitere, auch wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema sehr erleichtert. Die Edition ist also vorbildhaft, auch wenn man die Ortsnamen auf den Karten nur mit der Lupe lesen kann. Aber das hat sich wohl nicht anders realisieren lassen.

Ausführlich beschreibt Kreiser die erstaunliche Karriere eines Berufssoldaten, der mit einigen Unterbrechungen aus gesundheitlichen Gründen insgesamt an die elf Jahre an verschiedenen Fronten stand, worüber er sich auch nie beklagt hat. Im Gegenteil. Schon 1912 schreibt Atatürk an seinen Freund und späteren Adjutanten: „Wie du weißt, liebe ich am Militär vor allem die Kriegskunst. O Salih, Gott weiß es, ich habe in meinem Leben bis heute keinen anderen Herzenswunsch gehabt, als ein nützliches Mitglied der Armee zu sein.“

Geboren wurde Atatürk 1881 im multiethnischen Saloniki, einer Stadt in Makedonien, in der die Juden den größten Bevölkerungsanteil stellten, gefolgt von türkischen Muslimen, Ausländern verschiedener Volksgruppen und Griechisch-Orthodoxen. Der Tod des Vaters macht ihn mit sieben Jahren zum Halbwaisen. Kreiser bemerkt dazu, dass Atatürk in einem „bildungsfernen“ Milieu groß geworden sei. Es existierte kein Vater oder älterer Verwandter, der ihn in die großen Texte der islamischen Tradition hätte einführen können. Das erklärt wohl zu einem Teil, warum er bei seinen radikalen Reformen (Abschaffung des Kalifats, Ersetzung der arabischen Schrift durch die Lateinschrift, Schleierverbot, Kleider- beziehungsweise Hutreform) so wenig Skrupel kannte. Mit dreizehn besteht er die Aufnahmeprüfung in die militärische Vorbereitungsschule. Nach drei Jahren an der Kadettenschule in Manastir wechselt er an die Kriegsschule in Istanbul. Bereits als Schüler beginnt er, ziemlich regelmäßig Alkohol zu trinken, wie er freimütig eingesteht, ein Problem, das ihn zeitlebens begleiten wird, schließlich stirbt er 1938 an Leberzirrhose.

Dennoch, was für ein Leben! Nicht nur, dass es ihm und seinen Gefährten – die bei der Legendenbildung gern wegretouchiert werden, je mehr sich der Personenkult um Atatürk entwickelt – gelingt, einen Unabhängigkeitskrieg zu führen und zu gewinnen, das Sultanat abzuschaffen und die Republik auszurufen, die Rechtsprechung auf einen modernen Stand zu bringen und die Gleichstellung der Frauen – zumindest auf dem Papier – durchzusetzen, steht sein Volk noch heute unter seinem Bann. So viel an nachgetragener Liebe ist selbst für einen Vater der Türken ungewöhnlich.

Der Oberlehrer der Nation

Sein Geheimnis liegt laut Kreiser unter anderem in seiner Unermüdlichkeit: „Auch durch intensive Lektüre wurde er nicht zum Homme de lettre. Theoretische Konzepte beschäftigten ihn nicht, obwohl er ein guter Stilist war. Als Typ blieb er ein vor allem historisch belesener, bildungshungriger Mann. Sein bis zum Lebensende betriebenes Selbststudium war die Basis für die Fähigkeit, Wissenschaftler zur Mitarbeit an seinen großen Projekten Anthropologie, Archäologie, Sprach- und Geschichtswissenschaft zu gewinnen.“ Er war nicht nur der Oberkommandierende seiner Nation, sondern auch ihr Oberlehrer, wie er sich selbst gern bezeichnete, und stand nicht an, nach der Schriftreform gelegentlich selbst Leuten öffentlich Lesen und Schreiben beizubringen.

Über sein Familienleben, falls er überhaupt eines hatte, erfahren wir wenig. Kreiser schreibt diskret über die Blitzehe mit der jungen, unverschleierten, auch musikalisch gebildeten Latife aus gutem Haus, die er 1923 heiratete und 1926 wieder verließ. Eine Nichte seines Stiefvaters führte ihm das Haus in Ankara. Da er keine leiblichen Kinder hatte, umgab er sich mit Adoptivtöchtern, darunter eine Militärpilotin und eine Anthropologin, die jüngste, 1932 geborene Ülkü findet sich auf zahlreichen späten Fotos an der Hand ihres Adoptivvaters.

Bei aller Bewunderung für die Errungenschaften auf politischer, staatsmännischer und kultureller Ebene, die Atatürk seinem Land und dessen Bürgern, die sich allesamt zum Türkentum bekennen sollten, beschert hat, verweist Kreiser auch auf die autoritären Züge des Republikgründers, der dem Kult um seine Person nicht gerade ablehnend gegenüberstand. Hinzu kommt eine Reihe von wissenswerten Details zur Armenierfrage, etwa die Sichtweise Atatürks, die den Armeniern auf Grund ihrer Geschichtslosigkeit nicht das Niveau einer Nation zugestand.

Angeblich war eines von Atatürks Lieblingsthemen die Schwächen der deutschen Armee und ihrer Führer, die er bei gemeinsamen Kämpfen in Syrien, aber auch während des Weltkriegs festgestellt hatte. Dabei spielte auch eine gewisse Angst vor Ausbeutung durch die Deutschen eine Rolle, die der Militärattaché Österreich-Ungarns damit erklärte, „dass viele Deutsche geneigt waren, die Türkei als ihr ausschließliches Expansionsgebiet und Exploitationsobjekt zu betrachten.“ Spannend lesen sich die Passagen über die Schrift- und die anschließende Sprachreform sowie über das Musikverständnis des großen Chefs, wie der Gazi (Sieger) auch gern genannt wurde. Oder über Merkwürdigkeiten wie die Sonnensprachentheorie und den Panturanismus, die inzwischen in der Mottenkiste der Geschichte gelandet sind, so sie nicht von militanten Nationalisten in geheimen Zusammenkünften wieder daraus hervorgeholt werden.

Mit einem Wort, man verschwendet seine Zeit beileibe nicht, wenn man sich in diese Biografie vertieft, schließlich wird die Geschichte der Türkei über kurz oder lang zur Geschichte Europas gehören, und sei es vorerst nur in den Köpfen derjenigen Deutschen und Österreicher, die einen türkischen Migrationshintergrund haben. Ob mit oder ohne EU. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2008)

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