Zwei verirrte Kugeln

Patrick Modiano auf der Suche nach der verlorenen Frau: In „Gräser der Nacht“ erzählt der Nobelpreisträger für Literatur eine irritierende Liebesgeschichte mit trügerischen Identitäten.

Die junge Frau nennt sich Dannie, in Wirklichkeit hat sie viele Namen. Fragen beantwortet sie fast nie, und was sie in Paris tut, bleibt zwielichtig. Es ist Mitte der Sechzigerjahre, während der Entkolonialisierung, und Dannie hat offenbar mit der marokkanischen Geheimpolizei zu tun. Sie scheint sich zu verstecken und in „eine üble Geschichte“ verwickelt zu sein: Hat sie beim Versuch, sich zu verteidigen, einen Mann getötet, durch „zwei verirrte Kugeln“? Kurz: Wer ist diese Frau?

Ganz dahinter kommt der Erzähler bis zum Schluss nicht. Als junger Mann hat er Dannie geliebt, haben sie einander geliebt, in einem Pariser Hotel, einem Landhaus – bis sie unvermutet verschwand. Jahrzehnte später versucht der Erzähler zu entziffern, was damals passierte. Er tut das anhand seines Notizbuchs aus jener Zeit und mithilfe von Polizeiakten über Dannie, die ihm ein pensionierter Beamter Jahrzehnte später in die Hände spielt.

„Für mich hat es Vergangenheit und Gegenwart nie gegeben, alles verschmilzt“, heißt es im soeben auf Deutsch erschienenen Roman „Gräser der Nacht“. Im Grunde versuchen alle Romane von Patrick Modiano, immer neue Worte für diese Erfahrung zu finden: eine Erfahrung, die wohl viele zumindest manchmal verspüren, aber kaum einer ausdrücken kann. Modiano rückt ihr in seinen Romanen nahe wie nur wenige Autoren.

Im Oktober gab die Jury des Literaturnobelpreises bekannt, dass ihre Wahl auf den 69-jährigen Franzosen gefallen war. Und zwar, wie es hieß, „für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der (deutschen) Besatzung sichtbar gemacht hat“. Besatzungszeit, Schicksale – das klang schön konkret, mit solchen Worten machte man die Wahl des außerhalb seiner Heimat nur Eingeweihten bekannten Autors konsumierbarer. In Wirklichkeit aber ist das „Was“ der Erinnerung – ob es um die Besatzungszeit geht oder die Jugendjahre des Autors in den 1960er-Jahren – immer sekundär und eher zufällig; es ist das Material, das Modiano biografisch eben zur Verfügung steht. Entscheidend ist das „Wie“ – das der Erinnerung und das der Sprache, die ihr auf der Spur ist.

Bei Patrick Modiano spricht die Erinnerung leise und vertraulich, sie betört den Leser mit ihrer diskreten Eleganz, sie fließt dahin, als stetige träumerische, suchende Bewegung. Strukturiert wird sie vor allem durch räumliche Bewegung innerhalb von Paris. Gerade ruhige Sonntage, „vor allem spätnachmittags, und wenn du allein bist“, können eine Bresche in die Zeit reißen. Etwa, wenn der Erzähler durch einen „Flur mit Glastüren“ geht, der, wie er glaubt, dem Verlauf einer alten Straße folgt: „Ich sah kein Ende und musste blinzeln, wegen des Neonlichts.“ Man könnte dabei an die Zeitportale in der Science-Fiction denken.

Das Bild der Bresche entstammt nicht zufällig der Bauwelt; Häuser, Straßen, Metrostationen, Orte überhaupt verbinden bei Modiano das, was war, mit dem, was ist. La Barberie. Le Moulin d'Étrelles. La Framboisière – das sind die Namen von Orten, an denen sich der Erzähler einst mit Dannie aufhielt. Und wenn diese Wörter in seiner Erinnerung auftauchen, erlebt er sie als „unversehrt“, „wie die Körper der beiden Verlobten, die man einst im Gebirge fand, eingeschlossen im Eis, und die in Jahrhunderten nicht gealtert waren“.

Man könnte auf den ersten Blick meinen,der Erzähler suche nach Tatsachen, wolle die Vergangenheit ermittelnd „aufklären“. Aber was ihn wirklich treibt, ist die Sehnsucht nach den beiden im Eis eingeschlossenen „Verlobten“, nach dieser sehr frühen, irritierenden und doch unbeirrten Liebe. Nur das „zeitlose, geträumte“ oder, wie es immer wieder heißt, „geheime“ Leben zählt in diesem Roman. „Seite um Seite“ wird es „dem trüben Alltagsleben“ entrissen, „damit es ein bisschen Schatten und Licht bekommt“.

Fast nichts wusste und weiß der Erzähler von Dannie. Aber „schließlich sind die wahren Begegnungen solche zwischen zwei Menschen, die nichts voneinander wissen, selbst nachts nicht, in einem Hotelzimmer“. Auf Dannies Frage „Was würdest du sagen, wenn ich jemanden umgebracht hätte?“ antwortete der Erzähler damals: „Nichts.“ Heute würde er dieselbe Antwort geben. „Haben wir das Recht, über die zu urteilen, die wir lieben? Wenn wir sie lieben, dann hat das wohl irgendeinen Grund, und dieser Grund verbietet es uns, über sie zu urteilen. Oder?“

Identität ist bei Modiano ohnehin trügerisch. Selbst der Erzähler hat das Gefühl, dass er einmal seine richtige Geburtsurkunde zu Gesicht bekommen wird, mit seinem richtigen Namen, dem richtigen Geburtsdatum, den richtigen Eltern. Diese fundamentale Unsicherheit von Modianos Protagonisten wird hier nur andeutungsweise, anderswo stärker mit der Kindheit verknüpft – die bei Modiano sehr chaotisch verlief. Sein Vater, ein jüdischer Händler, war ganz abwesend, seine Mutter, eine flämische Schauspielerin, fast. Wohl auch deshalb suchen die Figuren so rastlos nach Spuren und Zeichen, um das Vergangene zu deuten. Aber es geht ihnen nicht um Fakten. Sie fühlen sich beim Blick zurück vielmehr wie vor einem erleuchteten Fenster, „das einem das Gefühl gibt, man habe in einem anderen Leben vergessen, das Licht auszuknipsen, oder jemanderwarte einen noch“.

Irgendwann, denkt sich der Erzähler, wird er Dannie finden. In einer Welt außerhalb der Literatur? Der Abschiedsbrief, den sie ihm schrieb, entstammt einem Roman, das scheint dem Erzähler nichts auszumachen. Enttäuscht ist er aber von den Akten der polizeilichen Ermittler: „Was wissen sie wirklich von uns beiden, und von dir?“ ■

Patrick Modiano

Gräser der Nacht

Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. 176 S., geb., €19,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)

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