Stracks ins Museum?

Als Kunstform ist die Oper quicklebendig, aber im Zuschauerraum fehlt der Nachwuchs. Künstler und Wissenschaftler haben sich deshalb in Graz zusammengefunden, um über „Die Zukunft der Oper“ nachzudenken. Das Ergebnis: keine Einigkeit.

Die Oper, diese feudalistische Kunstform, der die Bourgeoisie im 19.Jahrhundert prachtvolleTempel erbaut hat, um sich über sie als die neue herrschende Klasse zu definieren, und der man längst den baldigen Tod prophezeit hat, ist quicklebendig und erfreut sich bester Gesundheit– während das traditionelle Schauspiel unter dem Sammelbegriff „Stadttheater“ einem Dauerbeschuss ausgesetzt ist. Man wirft ihm vor, verstaubt zu sein, und erhofft sich von freien Gruppen, infantilem Mitmachtheater, Performance (was immer man darunter verstehen mag) und „Experten aus der Wirklichkeit“ das Heil.

Demgegenüber bleibt die Oper, diesekünstlichste der Bühnenkünste, weithin unangefochten und bietet Regisseuren, die das Sprechtheater vergrault hat, seit Gerard Mortiers Vorstoß Exil. Niemand verlangt, dass man das Publikum in der Oper mitsingen lasse, niemand schlägt die Beteiligung von Amateuren unter den Solisten oder auch nur im Chor vor, niemand wünscht sich, dass die Sängerinnen und Sänger ihre Libretti selbst schreiben und die Musik dazu komponieren. Die Arbeitsteilung steht in der Oper ebenso wenig zur Disposition wie, von zeitgenössischen experimentellen Werken abgesehen, die Rampe zwischen Bühne und Zuschauerraum. Es ist also keineswegs verwegen, wenn man von der Zukunft der Oper spricht. Nichtsdeutet darauf hin, dass ihr eine solche vorenthalten bleiben könnte. Selbst die ubiquitären Sparmaßnahmen hat sie vergleichsweise unbeschädigt überlebt – obgleich sie deutlich teurer als das Sprechtheater ist.

Der Band „Die Zukunft der Oper“ und die beigelegte DVD sind die Ausbeute eines Forschungsprojekts an der Kunstuniversität Graz und einer damit eng verbundenen Tagung an der Deutschen Oper Berlin. Kennzeichnend für die gegenwärtige Situation der Oper ist, dass der Einstieg in die Problematik nicht über die Musik, nicht über den Gesang, nicht über die Differenz von Musik- und Sprechtheater erfolgt, sondern über die Konzeption des Regietheaters, über eine Problematik also, die gar nicht für die Oper allein spezifisch und möglicherweise bereits in einer Phase des Verschwindens ist. Die Aktualität der Operndebatte begründet sich also über eine Auseinandersetzung, die auf diversen Parketten geführt wird.

Freilich fordert Barbara Beyer, Professorin an der Kunstuniversität Graz, gleich am Anfang ihrer Einleitung zum Widerspruch heraus, wenn sie als eines der vier Hauptmerkmale des „internationalen, vom Regietheater geprägten Stils“ die Psychologisierung nennt. Das beschreibt in dieser pauschalen Form nicht die beobachtbare Wirklichkeit. Es trifft auf die Arbeiten von Achim Freyer ebenso wenig wie auf die Inszenierungen von Calixto Bieito oder von La Fura dels Baus zu. Die Psychologisierung ist vielmehr ein typisches Merkmal jenes frühen Regietheaters von Felsenstein oder Berghaus, dem Beyer das heutige Regie- oder Regisseurstheater gegenüberstellt. Einen Ibsen der Oper hat es nicht gegeben, und das Fernsehen mit seinem psychologischen Realismus hat auf das Musiktheater zum Glück kaum Einfluss.

Verstaubte Inszenierungskonzepte?

Noch problematischer wird es, wenn Beyer behauptet, die Inszenierungskonzepte seien seit den 1970er-Jahren standardisiert worden, „zu einer bloßen Tradition verkommen, der jeder Kunstanspruch abhandengekommen scheint“. Welchen gemeinsamen Standard, welches gemeinsame traditionelle Konzept sollten die Inszenierungen von, sagen wir, Konwitschny, Neuenfels, Sellars, Wieler und Morabito, Breth, Herheim, Mitchell erfüllen? Kann man ihnen tatsächlich den Kunstanspruch – nicht nur den Anspruch, sondern auch dessen Einlösung – absprechen? Dass es seit Ruth Berghaus, die auch Beyer anerkennt und von der Peter Konwitschny übrigens nicht gar so weit entfernt ist, nur noch selten Inszenierungen gebe, die durch ihre szenische Setzung überraschen, gilt für das Musiktheater weit weniger als für das Sprechtheater – selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es weniger Mühe macht, das meist konservativere Opernpublikum zu überraschen. Genauer wird Beyer, wenn sie in einer Podiumsdiskussion bedauert, dass aus Ansätzen der 1980er-Jahre – konkret ist von Neuenfels' „Aida“ die Rede – im Lauf der vergangenen 30 Jahre „ein sehr billiges Aktualisieren geworden“ ist. Dem ist zuzustimmen, wenn auch nicht mit dieser Ausschließlichkeit. Vor allem aber gilt gerade dies nicht allein für die Oper, sondern mehr noch für das Sprechtheater und übrigens auch für den Literaturunterricht an den Schulen.

Gleich der erste Beitrag nach der Einleitung eröffnet mit einem Beispiel, das beide Thesen Beyers infrage stellt. Dirk Baecker – in Sachen Oper ein „Laie“ – beschäftigt sich mit Christoph Marthaler, dessen Projekte mit Sicherheit weder psychologisieren noch einem allgemeinen Standard entsprechen.

Die Frage nach der Zukunft der Oper betrifft zwei Problemkreise, die zwar zusammenhängen, aber doch getrennt diskutiert werden müssten: die Zukunft der Oper als Institution und die Zukunft der Oper als Werk. Sie überlappen sich insofern, als keine Einigkeit darüber besteht, ob die Zukunft der Oper als Institution von der Ermöglichung eines kompositorisch wie szenisch innovativen Werks abhängt oder ob sie als „Museum“ des überlieferten Repertoires denkbar ist. Es versteht sich, dass an die Institutionen gebundene Personen dabei den Standpunkt von Komponistinnen und Komponisten oder auch Librettistinnen und Librettisten teilen können, aber nicht müssen. Jedenfalls unterscheidet sich ihr Blick von dem jener Künstler, denen es um Aufführungsmöglichkeiten für ein Werk geht, das ohne Realisierung praktisch nicht existiert. Hinzu kommen die ökonomischen Interessen, die man nicht vernachlässigen sollte.

Eine Schnittmenge der beiden Problemkreise deutet Beyer an, wenn sie fragt: „In der zeitgenössischen Oper sind Stimme, Ausdruck, Fühlen oft voneinander unabhängig. Warum versucht man nicht, sich auch von dort Inspirationen zu holen und eine klassische Partitur anders zu denken?“ Die Frage bleibt im Raum hängen. Sie könnte verschiedene Antworten provozieren – vor allem, wenn man das Anders-Denken inhaltlich zu füllen unternimmt. Der schon erwähnte Marthaler hat, was Beyer vorschlägt, in seinem Salzburger „Figaro“ ja ansatzweise getan. Warum geht niemand auf dieses Beispiel ein? Muss man die Dekonstruktion neu erfinden? Oder ist sie nicht vielleicht inzwischen so sehr Standard, wie Beyer es für das Regietheater behauptet?

Der interessanteste Beitrag stammt von Giordano Ferrari und thematisiert, in englischer Sprache(!), die Stimme im Musiktheater. Er handelt allerdings ausschließlich von deren Geschichte, wenn auch in den vergangenen 50 Jahren. Von der Zukunft ist nicht die Rede, weder von der Zukunft der Oper noch von der Zukunft der Stimme. In der Schule hieß das: Thema verfehlt, setzen.

Die mehr als 400 klein bedruckten Seiten des Bandes füllen zu einem wesentlichen Teil die Podiumsdiskussionen, die sich an die Vorträge anschließen oder unabhängig davon Aspekte hinzufügen. Das Gespräch etwa, das auf ein – im Buch handschriftlich wiedergegebenes – Referat von Jonathan Meese folgt, ist ein Musterbeispiel dafür, wie Menschen, die sich vorwiegend für sich selbst, aber nicht für einander interessieren, aneinander vorbeireden. Da sagt zum Beispiel die Komponistin und Performerin Pia Palme: „Ich schaue ja nicht auf das Publikum, ich komme von meinem inneren Drang aus dazu, diese Dinge zu schaffen.“ Und der Filmemacher Nicos Ligouris reagiert so: „Mit dem Film ist es in Deutschland sehr schwer, denn er gilt eigentlich nicht als Kunst, sondern als Unterhaltung.“ Von Meesehören wir auch so differenzierte Bekenntnisse wie dieses: „Castorf ist spitzenmäßig, den liebe ich über alles, er ist ein Kumpel und über den lasse ich nichts kommen.“ Mit der Zukunft der Oper hat das zwar nichts zu tun, aber das fällt bei dem Verlauf der Podiumsgespräche nicht weiter auf.

Es ist immer wieder verblüffend, wie Wissenschaftler, die sich beruflich mit Fragen der Kommunikation beschäftigen, außerstande sind, ihre eigene Kommunikation zu reflektieren. Sie sprechen in ihren Vorlesungen undeutlich und zu leise; wenn Mikrofone bereitstehen, sind sie unfähig, diese vor den Mund zu halten; sie verlassen sich auf ihren Laptop und meinen, Power Point ersetze die logische Argumentation, und es scheint ihnen auch nicht zu dämmern, dass die Podiumsdiskussion an die mündliche Kommunikation gebunden ist. Für die Lektüre ist sie mit ihren improvisierten Gedanken, ihrer defekten Syntax, ihrer Redundanz und ihrer lückenhaften Beweisführung ungeeignet. Was bei der direkten Kommunikation durch Intonation und Gestik ausgeglichen werden kann, bleibt im Buch unrelativiert. Kurz: Die unmittelbare Übertragung von öffentlichen Veranstaltungen, seien es Vortragszyklen, seien es Podiumsdiskussionen, in eine gedruckte Form entspricht allein dem Wunsch der Verlage, billig zu produzieren, und dem der Forscher, ihre Publikationslisten zu verlängern, ist aber hinsichtlich jeder kommunikationstheoretischen und erst recht jeder kommunikationspraktischen Überlegung der reinste Hohn.

Neue soziale Schichten erschließen

Wenn wir zu Beginn behauptet haben, dass die Oper quicklebendig sei, so müssen wir ergänzen: Aber es fehlt ihr – nicht auf der Bühne, aber im Zuschauerraum – der Nachwuchs. Die Zukunft der Oper wird wesentlich davon abhängen, ob und wie man junge Menschen und bisher ferngehaltene soziale Schichten für sie interessieren kann, ohne sie einer populistischen Anbiederung zu opfern. Es geht also auch um didaktische Maßnahmen. Einige Opernhäuser leisten da bereits vorbildliche Arbeit.

Im vorliegenden Buch, das sich in anderem Zusammenhang gern politisch progressiv gibt, wird dieser Aspekt ausgeblendet. Selbst ein offenbar unverwüstliches Phänomen wie Verona wäre eine Betrachtung wert. Es gibt keinen anderen Grund als bürgerliche Arroganz, die Zehntausenden, die die Arena füllen, geringer als die Besucher der Fußballstadien oder der Salzburger Festspiele zu achten. Eine „Così fan tutte“ in der Regie von Bechtolf kann jedenfalls nicht als Argument für die Oper der Zukunft herhalten.

Schon gar nicht im Vergleich mit den drei experimentellen Inszenierungen, die auf der dem Buch beigelegten DVD enthalten sind. Sie warten mit einer Reihe origineller Ideen auf, allerdings auch mit modischen Accessoires, die dem Musiktheater nicht mehr fremd und im Sprechtheater gang und gäbe sind, von den Videoprojektionen und dem Splitscreen über den frontalen Vortrag an der Rampe und die asynchrone Choreografie bis zur grotesken Figurenzeichnung und der anachronistischen Kostümkombination und zum unvermeidlichen Mikroport. Text wird mündlich und schriftlich hinzugefügt. Die Eingriffe in das musikalische Material sind eher bescheiden. Die DVD-Beispiele verweisen jedenfalls wieder auf einen mehr oder weniger neuen Zugang zum Repertoire. Pia Palme und ihre komponierenden Kolleginnen und Kollegen wird das kaum befriedigen.

Fazit: Ein Buch über die Zukunft der Oper wäre ein Desiderat. Vorläufig gibt es nur diesen Titel. ■

Barbara Beyer, Susanne Kogler, Roman
Lemberg (Hrsg.)

Die Zukunft der Oper

Zwischen Hermeneutik und Performativität. 424 S., viele Abb., eine DVD, brosch., €18,60 (Verlag Theater der Zeit, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2014)

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