Weltkunst für daheim

André Malraux, Autor, Résistance-Kämpfer und Politiker, legte mit seinem „Musée imaginaire“ eine „Weltkunstgeschichte“ vor. Der deutsche Kunsthistoriker Walter Grasskamp würdigt den späteren Kulturminister de Gaulles.

Nach den Schrecken der Nazi-Barbarei begann im deutschsprachigen Raum die Suche nach den verschütteten Spuren der künstlerischen Moderne. Hans Sedlmayrs „Verlust der Mitte“ von 1948 gefiel mit seinem abendländischen Blick den Konservativen, ohne dabei den Staub der entarteten Kunst völlig abstreifen zu können. Walter Benjamins kühne Interpretationen aus den 1930ern blieben vorerst verschüttet und sollten in Deutschland und Österreich erst ab 1955 ausgegraben werden. Ernst Fischers „Von der Notwendigkeit der Kunst“, im kommunistischen Dresden publiziert, kam aus ideologischen Ängsten schon gar nicht infrage, bei uns auch dann nicht, als eine englische Übersetzung 1963 als Pelican Original fast Bestseller-Auflagen erzielte.

Als 1955 in Kassel die erste „documenta“ stattfand, die staunenden mitteleuropäischen Besuchern die Radikalität moderner Weltkunst vermittelte, stellte sich heraus, dass der Franzose André Malraux ein wichtiger, vielleicht sogar entscheidender Vermittler eines neuen Sehens für uns alle war. In meiner Bibliothek hüte ich ein zerfleddertes Exemplar des rororo-Bändchens von 1957 mit dem Untertitel „Das imaginäre Museum“, die erste Übertragung ins Deutsche aus der monumentalen Editionstätigkeit von Malraux, gipfelnd in den 42 Bände des „L'universe des formes“, einer Weltkunstgeschichte, welche deutsch erst in den 1990ern fertig vorlag, also knapp vor dem Auftauchen des Internet, womit für das klassische Kunstbuch eine Ära endete.

Mich Gymnasiasten faszinierte Malraux damals vor allem als Romanautor, dessen revolutionäre Geschichten um die Conditio humana sich aus seinem abenteuerlichen Leben speisten, mit Malraux sozusagen als republikanischer Version eines Ernst Jünger, dessen „Afrikanische Spiele“ auch Französisch-Indochina gestreift hatten. Im genannten Rowohlt-Bändchen heißt es: „André Malraux entdeckte im Fernen Osten sein Interesse für Politik und nahm als überzeugter Kommunist an den Aufständen in Annam und Kotschin-China und an der chinesischen Revolution 1926/27 teil.“

Alles frei erfunden. Indochina stimmt schon, allerdings als Landschaft für den Kulturflaneur, der Steinfiguren in der Nähe von Angkor Wat die Köpfe absägte, wofür er zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Einflussreiche Freunde erreichten bald seine Freilassung. Die weitere Vita stimmt: Engagement im Spanischen Bürgerkrieg, aktiv in der Résistance, Mitarbeiter von de Gaulle und dann, ab 1959, dessen legendärer Kulturminister, der es als Erster wagte, versmogte Fassaden historischer Bauten mittels Sandstrahls aufweißen zu lassen. Daher verblasst in der Erinnerung an diese Ausnahmefigur die titanische Editionstätigkeit beim Pariser Verlag Gallimard, wo das Zauberwort „musée imaginaire“ in die Welt kam.

Auftritt des deutschen Kunstkritikers und Kunsthistoriker Walter Grasskamp, der in der Auseinandersetzung mit Malraux ein exzeptionelles Buch gestaltet hat. Einige wehmütige Sätze deuten an, dass Grasskamp Idee und Theorie der fotografischen Kunstreproduktion gerne Walter Benjamin zuschreiben würde. Doch Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ von 1935 mit dem berühmten Verdikt des Verlusts von Aura eines Kunstwerkes in der Vervielfachung blieb damals ohne Wirkung, zumal Benjamin auf der Flucht vor den Nazis, 1940 im spanischen Grenzort Portbou, nachdem ihm die Einreise verweigert worden war, in den Freitod ging. Zwischen Malraux und Benjamin gab es seinerzeit eine tangentiale Berührung, aber Malraux, kunsthistorisch eigentlich Autodidakt, sog sowieso wie ein Schwamm alle Anregungen, ohne viel Zitierung, auf.

Grasskamp beginnt mit einem Malraux-Foto in der Illustrierten „Paris Match“ vom 19. Juni 1954. Es zeigt den elegant gekleideten Malraux stehend im großbürgerlichen Salon, unweigerlich mit der Zigarette im Mundwinkel, vor den auf dem Boden ausgebreiteten Doppelbildern aus dem Editionsvorhaben des „Musée imaginaire de la sculpture mondiale“. Darin sind Bildwerke aus allen Erdteilen und aus 3000 Jahren – also „Weltkunst“ – versammelt. Dies gelingt Malraux, indem er Geschichte und Lokalgebundenheit von Kunstobjekten dank fotografischer Reproduktion aufhebt, sie untereinander beliebig kombinierbar macht. Genau das ist die Pointe des „musée imaginaire“.

Aber, fragt Grasskamp, wie soll „musée imaginaire“ übersetzt sein? „Imaginäres Museum“, wie von Rowohlt eingeführt, schwindelt sich um die Antwort herum. Denn im Petit Larousse Illustré finde ich „malade imaginaire“, also eingebildeter Kranke, wie bei Molière. Und das kann es ja nicht sein. Also wäre „bildhaftes Museum“ angebracht, was aber gegen die schimmernde Eleganz des Originals nicht ankann – obschon der Verlag im Titel beim Deutschen bleibt. Verwenden wir also ohne Gewissensbisse den französischen Begriff. Oder nennen wir den Vorgang mit Grasskamp „bildhafte Musealisierung, bestehend in einer mediengestützten Levitation, bei der die schwersten Steinskulpturen in eine Buchillustration verpflanzt werden können.“ Es hat also der Zauberkünstler Malraux mit einem magischen Begriff die auf fotografischen Reproduktionen basierenden Kunstbücher der vergangenen 100 Jahre eingefangen. Heute, dank des Internets, kann sich jedermann Weltkunst mühelos ins eigene Wohnzimmer holen.

Grasskamp hat ein sorgfältigst recherchiertes, klar geschriebenes und dank der vielen Fotos auch wunderschönes Buch gemacht. Würden nur alle wissenschaftlichen Publikationen diese Tugenden zeigen! Übrigens lässt Grasskamp auch Vorläufern oder zeitgenössischen Anregern – herauszuheben sei vor allem der Foto/Video/TV-Praktiker André Vigneau – Gerechtigkeit widerfahren. Die Apotheose gebührt, trotz manch arroganter Schwindelei, Malraux, dem es – meint unser Autor – um die Verwirklichung der imperialen Museumsidee Napoleons in einem großbürgerlichen Salon geht, um ein „musée imaginaire“, das dank der Fotografie ohne kolonialen Kunstraub auskommt. ■

Walter Grasskamp

André Malraux und das imaginäre Museum

Die Weltkunst im Salon. 232 S., 65 Abb., geb., €30,80 (C.H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2015)

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