Menschen den Grenzen anpassen

Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu den größten Bevölkerungsbewegungen der Neuzeit. An die drei Millionen „Displaced Persons“ befanden sich in Österreich. In „Der wilde Kontinent“ schildert der englische Historiker Keith Lowe Hunger, Gewalt und Anarchie in den Jahren von 1943 bis 1950.

Seit Beginn der Kriegshandlungenim Frühjahr 2011 haben an die zehn Millionen Menschen in Syrien ihre Heimat und ihre Wohnstätten verloren, über drei Millionen fristen ein armseliges Leben in Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens, in Jordanien, im Libanon und in der Türkei. Städte, Dörfer und Landschaften, Kulturdenkmäler von unschätzbarem Wert wurden zerstört. Europa hat in dieser humanitären Katastrophe nur geringe Solidarität bewiesen. So wurden bisher in europäischen Ländern bis Ende 2014 weniger als fünf Prozent der aus Syrien geflüchteten Menschen aufgenommen.

70 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs scheinen die Europäer offenbar vergessen zu haben und zu verdrängen, dass in Europa im Jahr 1945 und danach eine mit der gegenwärtigen Situation in Syrien und im Nahen Osten vergleichbare Notlage herrschte und dass damals den von den Kriegsereignissen und Kriegsfolgen besonders betroffenen Ländern und Bevölkerungen großzügige internationale Hilfe seitens der Vereinten Nationen, der skandinavischen Staaten, der Schweiz, der USA und Kanadas zuteil wurde.

Das Chaos und das Elend, das nach Ende des Zweiten Weltkriegs in vielen europäischen Ländern geherrscht und das in einer Reihe dieser Länder noch bis Ende der 1940er-Jahre angehalten hat, stellt der englische Historiker Keith Lowe in seinem 2012 in London erschienenen Buch dar, das unter dem Titel „Der wilde Kontinent – Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950“ nun in deutscher Sprache vorliegt. Der Autor, Jahrgang 1970, der sich auch durch zwei Romane einen literarischen Ruf erworben hat, veröffentlichte 2007 eine erste Studie über den Zweiten Weltkrieg („Inferno“), in der er die Bombardierung Hamburgs durch die britische und amerikanische Luftwaffe im Jahr 1943, durch die über 30.000 Menschen getötet wurden, behandelt.

Der Autor schildert in einem beklemmenden und ohne Ressentiment ausgeführten Pandämonium Hunger, Gewalt und Anarchie in Europa bei Kriegsende und in den Jahren danach. Millionen von Flüchtlingen irrten damals durch die zerstörten Städte und Landschaften, Hunderttausende litten und starben an Hunger und Krankheiten, vegetierten in Auffang- und Kriegsgefangenenlagern. So befanden sich bei Kriegsende an die drei Millionen von sogenannten Displaced Persons in Österreich – Juden und Roma, die die Vernichtungslager der Nazis überlebt hatten, Zwangsarbeiter und ehemalige Kriegsgefangene, vertriebene Deutsche aus den Ostgebieten, ausländische Soldaten. Es kam zu den größten Bevölkerungsbewegungen der Neuzeit.

Während nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Grenzen verändert wurden, um sie den veränderten ethnischen Gegebenheiten anzupassen, wurden nun mit Zustimmung der westlichen Alliierten und mit aktiver Beteiligung der Sowjetunion Volksgruppen verschoben, um sie den Grenzen anzupassen. Rund zwölf Millionen Deutsche wurden aus ihren seit Jahrhunderten angestammten Siedlungsgebieten in Polen, Ostböhmen, der Slowakei, Siebenbürgen und Rumänien wie auch der Tschechoslowakei vertrieben. Ähnliche Vorgänge waren in vielen Gebieten Ost- und Südosteuropas zu beobachten. Ukrainer wurden aus Polen verjagt, Ungarn aus der Slowakei und aus Rumänien, Italiener aus Jugoslawien und Albaner aus Griechenland.

Pogrome nach dem Krieg

Eines der düstersten Kapitel in der Nachkriegsgeschichte Europas betrifft das Wiederaufleben des Antisemitismus. In vielen europäischen Ländern wurden die jüdischenÜberlebenden aus den nationalsozialistischen Vernichtungslagern sehr oft äußerst unfreundlich aufgenommen, und es wurden eine gezielte Unterstützung und Wiedergutmachung verweigert. In Polen, wo mehr als drei Millionen der jüdischen Bevölkerung desLandes von den Nationalsozialisten ermordet worden waren, kam es erneut zu Pogromen. Im Juli 1946 stürmte in Kielce im Südosten Polens ein Mob das Haus, in dem sich der Sitz des Jüdischen Komitees befand und tötete über 40 Juden.

In den beiden ersten Jahren nach 1945 flüchteten 200.000 Juden aus Polen. Zehntausende Juden verließen in Folge der antisemitischen Haltung großer Teile der Bevölkerung Ungarn, die Tschechoslowakei und Rumänien. Die meisten von ihnen wanderten aus dem feindseligen und für sie immer noch unsicheren Europa in Richtung Palästina aus. Osteuropa, dessen Länder ab 1947 durch die Politik Stalins in kommunistische Diktaturen gezwungen wurden, wurde durch die Vertreibung der Deutschen und die Zerstörung der jüdischen Kultur zu einer Region ethnisch homogener und monokultureller Nationalstaaten, in denen der Bevölkerungsanteil der nationalen Minderheiten im Zeitraum bis 1947 auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft war.

Ein besonders kontroversieller Teil der europaweiten Gewaltgeschichte der ersten Nachkriegsjahre, mit dem sich Keith Lowe sehr ausführlich und auf der Grundlage einer sehr sorgfältigen Überprüfung der vorhandenen Studien und Statistiken auseinandersetzt, betrifft die Vergeltungsaktionen gegen Kollaborateure des Nazi-Regimes. In Frankreich wurden an die 20.000 Frauen, die Beziehungen mit Wehrmachtssoldaten eingegangen waren, öffentlich gedemütigt, indem man ihnen die Köpfe schor und sie auf den Marktplätzen an den Pranger stellte. Opfer dieser harten Bestrafung der Zusammenarbeit mit den Deutschen waren insbesondere auch die Kinder, die in den besetzten Gebieten von deutschen und österreichischen Soldaten gezeugt worden waren, nach Schätzungen waren dies in ganz Europa zwischen ein und zwei Millionen. Viele dieser Kinder wurden bedroht, gemobbt, diskriminiert und zum Teil auch körperlich misshandelt.

Partisanen und Mitglieder der antifaschistischen Widerstandsbewegungen nahmen in der gewalttätigen und chaotischen Atmosphäre der ersten Wochen und Monate nach Kriegsende das Gesetz in die eigene Hand. In Italien wurden tausende Parteigänger der italienischen Faschisten exekutiert. Um die Partisanen wieder ins zivile Leben zu integrieren, verfügte die Regierung in Rom damals eine Amnestie von drei Monaten für Verbrechen, die nach Kriegsende im Namen der Befreiung begangen worden waren. In der Tschechoslowakei dauerte die Periode der Straffreiheit für Tötungen und Verfolgungen von Kollaborateuren und Angehörigen der deutschen Bevölkerung fünfeinhalb Monate.

Der Umgang mit den Parteigängern und Helfershelfern des nationalsozialistischen Regimes fiel in den europäischen Ländern äußerst unterschiedlich aus. So wurden in Norwegen über 90.000 Ermittlungsverfahren gegen Nazi-Kollaborateure eingeleitet und in mehr als der Hälfte mit recht harten Strafen abgeschlossen. In Österreich wurde die aktive Mitwirkung an der Terrorherrschaft des Hitler-Regimes weit milder geahndet. Während in der Tschechoslowakei an die 700 Todesurteile wegen Verbrechen, die während des Krieges stattgefunden hatten, vollstreckt wurden, kam es in Österreich nur zu 43 Todesurteilen, von denen 30 exekutiert wurden. Österreich, so resümiert Lowe, wurde „zu einem der sichersten Länder für Kollaborateure in Europa“.

Ein anderer Widerspruch, der das Streben nach Gerechtigkeit in Europa nach dem Krieg erschwerte und behinderte, war, dass die Gerichte in diesen Prozessen gegen Kollaborateure in vielen europäischen Ländern generell härtere Strafen gegen Personen verhängten, die weniger gut sozial vernetzt waren und sich keine teuren Anwälte leisten konnten.

Besonders brutal war die politische Abrechnung mit den Verbündeten der deutschen Wehrmacht in Jugoslawien. Bei den Massakern an Soldaten und Parteigängern der faschistischen Ustascha-Bewegung wurden tausende unbeteiligte und unschuldige Zivilisten umgebracht. Während in den von den westlichen Alliierten befreiten respektive besetzten Staaten die staatlichen Autoritäten mit Erfolg versucht haben, das gewaltsame Vorgehen von Partisanen und anderen Gruppen gegen Kollaborateure möglichst bald einzudämmen beziehungsweise unter Kontrolle zu bringen, wurden die Gewalttaten in Jugoslawien, wo es keine alliierte Verwaltung und kein funktionierendes Rechtssystem gab, mit Billigung und unter aktiver Mitwirkung der Tito-Regierung durchgeführt. Mit seiner Darstellung der Exzesse der Bestrafungsaktionen von Kollaboration und derBrutalität in der Durchführung der ethnischen Vertreibungen will der englische Historiker begreiflich machen, dass das Phänomen der Rache ein „elementarer Bestandteil des Fundaments ist, auf dem das Nachkriegseuropa errichtet wurde“.

Er stellt diese Aktionen, die auch sehr viele Unschuldige trafen und in der ganze Bevölkerungsteile kollektiv für die Verbrechen einiger weniger zur Rechenschaft gezogen wurden, in den konkreten historischen Kontext der Zerstörungen und der Entmenschlichung durch die Verwüstungen des Krieges und als Reaktion auf die Vernichtungs- und Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Diese Vorgänge sollten, wie er argumentiert, nicht mit heutigen Maßstäben gemessen werden: „Es wäre von den europäischen Völkern, die durch jahrelange Unterdrückung und Gräuel verroht waren, sicherlich zu viel verlangt gewesen, dass sie solche Exzesse hätten vermeiden können.“

In dem düsteren Panorama von Chaos und Gewalt, das der englische Autor von der Entwicklung Europas in den ersten Nachkriegsjahren zeichnet, fehlt fast vollständig die Auseinandersetzung damit, wie rasch und wie erfolgreich in weiten Teilen Europas der Prozess der Rückkehr in die Normalität, der wirtschaftliche und der politische Wiederaufbau, die Grundlegung einer neuen europäischen Friedensordnung vorangetrieben werden konnte.

Auch Tatendrang und Idealismus

Lowe spricht diese andere, die positive Seite der Nachkriegsjahre in seinem Buch fast überhaupt nicht an. Nur an einigen wenigen Stellen, und dann in recht allgemeiner Weise im Schlusswort, erwähnt er, dass die erstenJahre nach Kriegsende „auch auf allen Ebenen der Gesellschaft von überschäumendem Tatendrang und Idealismus geprägt“ waren und dass das Chaos der Nachkriegszeit auch als ein „proteisches Chaos, aus dem das neue Europa hervorging“, gesehen werden muss.

Dass sich der Autor mit der anderen, der positiven Seite der Nachkriegsjahre, ihrer Erfolgsgeschichte, wie sie von Tony Judt in seiner „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ meisterhaft beschrieben wurde, nicht auseinandersetzt, kann den Wert und die Bedeutung seiner beeindruckenden Trauerarbeit über das dunkle Europa von1945 und danach nicht schmälern. Er macht deutlich, dass nationalistischer Hass und rassistische Gewalt durch einseitige Schuldzuweisungen und durch ein Herausreißen von historischen Fakten und Prozessen aus ihrem Gesamtkontext entstehen und verstärkt werden.

Lowes Buch macht uns bewusst, dass es wenig produktiv ist, „Vergangenes vergangen sein zu lassen“ (so Konrad Adenauer in seiner ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 1949). Denn es sind unsere Erinnerungen an die Vergangenheit, die uns zu dem machen, was wir sind und was wir werden können. ■

Keith Lowe

Der wilde Kontinent

Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950. Aus dem Englischen von
Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt. 526 S., geb., €27,80 (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2015)

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