Ein Mann beugt sich über seine Vergangenheit

Meister der Stimmungen: Eine politische Verschwörung im Paris der 1960er-Jahre bildet für Nobelpreisträger Patrick Modiano die Folie für seine Erinnerungsarbeit.

Eine Bresche in die Zeit zu schlagen scheint das ästhetische Programm des französischen Nobelpreisträgers für Literatur, Patrick Modiano, zu sein. Der Satz taucht bereits auf Seite 10 seines zuletzt auf Deutsch übersetzten Romans auf: „Gräser der Nacht“. Vergegenwärtigung ist das Stichwort zu seiner Poetik. Ihm ist die Geschichte viel präsenter als die Gegenwart: „Ereignisse, die ich nicht selbst erlebt habe – sie reichen ins 19. und sogar ins 18. Jahrhundert zurück –, erscheinen mir seltsamerweise viel klarer“ als die aktuelle Zeit.

Diesmal erinnert er sich an eine Epoche, die er selbst erlebt hat: das Paris Mitte der 1960er-Jahre. Aber nicht der politischen Aufbruchstimmung, die zu den Revolten im Mai 1968 geführt hat, gilt seine Aufmerksamkeit, sondern einem bestimmten Viertel, der Gegend rund um den Montmartre, in dem er damals als Student gelebt und das inzwischen „seine Seele verloren“ hat. Um diesen Ort zu verlebendigen, wird er zum Flaneur der Erinnerung. Dabei hilft ihm ein schwarzes Notizheft, in das er damals alles Mögliche gekritzelt oder auch Kleinanzeigen eingeklebt hat.

Im Wesentlichen geht es um drei Monate, die der Icherzähler mit einer Frau namens Dannie verbringt, die sich als Studentin ausgibt, tatsächlich aber in eine politische Verschwörung verstrickt ist. Beteiligt an dem Komplott, bei dem es auch einen Mord gibt, sind vier weitere Personen, zu denen Dannie in einem eigenartigen Spannungsverhältnis steht. Doch erst im Rückblick fällt Jean, dem Icherzähler, auf, wie vertrauensselig er gewesen ist, wie wenig er nachgefragt hat bei all den dubiosen Unternehmungen, zu denen Dannie ihn angehalten hat, etwa dem Aufenthalt in einem leeren Landhaus, 100 Kilometer von Paris entfernt. Zuletzt, nach ihrem Verschwinden, lautlos wie sie aufgetaucht ist, wird er sogar zweimal von einem gewissen Langlais verhört.

Hintergrund der Geschichte ist die reale Affäre Ben Barka, bei der ein marokkanischer Politiker am 29. Oktober 1965 in Paris entführt und danach ermordet worden ist – unter nie ganz geklärten Umständen. Doch im Gegensatz zu Krimiautoren ist es Modiano nicht um das Verbrechen zu tun, schon gar nicht um die politischen Zusammenhänge, sondern um Erinnerungsarbeit, um das Festhalten von Vergangenheit. „Man darf nicht in der Vergangenheit wühlen“, sagt ihm Langlais, als sie einander wiederbegegnen. Kurz danach fällt Jean ein Zettel entgegen, als er versucht, Geld an einem Automaten abzuheben: „Ihre Ansprüche sind erloschen.“

Die Verschwörungsgeschichte bildet nur die Folie für etwas anderes: nämlich für die Evokation eines Vorlebens, das an Jean vorübergezogen ist, „ohne es im Augenblick recht zu begreifen“, und dessen er sich jetzt, fast 50 Jahre danach, vergewissern möchte. Zu diesem Zweck listet er wie Beschwörungsformeln etliche Namen auf – Metrostationen, Straßen, Hotels. „Ich brauchte Orientierungspunkte, als fürchtete ich, die Leute und Dinge könnten von einem Augenblick auf den anderen unsichtbar werden oder verschwinden.“ Diese Formulierung gibt einen Hinweis auf die poetische oder eigentliche politische Absicht, denkt man an die vielen Verschwundenen des Krieges. Das kann man,wenn man actionorientiert ist und wenig Sinn für das Entwerfen von sprachlichen Bildern hat, ein wenig langweilig finden. Selbst dann muss man aber zugeben, dass Modiano es mit seinen Traumsequenzen schafft, imaginäre innere Landschaften im Kopf entstehen zu lassen, die an herausragende Filme wie zum Beispiel Truffauts „Jules et Jim“ erinnern. Modiano ist ein Meister der Stimmungen und Atmosphären.

Das ist es auch, was seine Literatur insgesamt auszeichnet. Ob der Roman „Gräser der Nacht“ nun eine gute Einstiegslektüre in sein Werk ist, wie manche Kritiker behaupteten und andere bestritten, ist eher eine akademische Frage. Gewiss ist, dass dieses Buch des 1945 bei Paris geborenen Autors seine Art von Literatur repräsentiert und somit die Absicht der Schwedischen Akademie kenntlich macht, einem „leisen“ Autor eine Öffentlichkeit zu verschaffen. ■

Patrick Modiano

Gräser der Nacht

Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. 176S., geb., €19,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2015)

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