Ein Eheleben auf Urlaub und mit Handy

Deutsche Wertarbeit: Stephan Thomes feinfühliger Roman „Gegenspiel“ über ein stinknormales Ehepaar, das getrennte Wege geht und sich doch als Paar versteht.

Die Freiheit der meisten besteht darin, zu sein wie alle anderen, und die Perversion unserer Gesellschaft besteht darin, allen einzureden, sie wären dazu berufen, anders zu sein. Homer erzählt noch Geschichten von Göttern und von Helden, die man nur aus Geschichten kannte, noch einmal, noch ausführlicher, noch schöner. Goethe erzählte in seinen Romanen, was ihn selber umtrieb. Seit Flaubert, der uns einreden wollte, Madame Bovary selbst zu sein, erfahren wir etwas, was wir selber nicht recht durchschauen und dem wir nur mit Vermutungen nahekommen: das Leben der anderen. Was tun sie, wie kommen die zurecht, die man gelegentlich auf dem Balkon gegenüber sieht: Nun gut, er raucht, und sonst?

Natürlich verfolgen wir die anderen Leben mit einem derart insistierenden Interesse, weil wir unser eigenes dagegenhalten, sei es, um uns wiederzuerkennen, die eigenen Fehler, die eigene Sehnsucht, sei es, um fremd bleibende Entscheidungen, Taten oder gar Untaten unserer immer wachen Urteilsfreude zu unterziehen.

Stephan Thome, der zweimal auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis gestanden ist und ein würdiger Gewinner gewesen wäre, hat mit seinem dritten Roman quasi eine Ergänzung zu dem vorangegangenen, „Fliehkräfte“, geschrieben (den man auch gelesen haben sollte, aber nicht muss, um diesen zu verstehen): Es geht um das Ehepaar Hartmut Hainburg, Philosophieprofessor in Bonn, und seine portugiesische Frau Maria Antonia, wobei in vorigem Roman er, jetzt aber sie im Focus steht. Es geht um die vertrackte Beziehung eines Paares – wir kürzen naturgemäß stark ab –, das seine Wege weitgehend getrennt geht und sich doch als Paar versteht, das schon die längste Zeit eine Art gemeinsames Leben lebt, ohne freilich zu wissen, welchen Begriff man selbst, geschweige denn der Partner davon hat.

Maria kommt aus einem sehr katholischen bäuerlichen Elternhaus in der portugiesischen Provinz in das Westberlin der ausgehenden 1960er-Jahre. Ihrem aus Portugal anreisenden Freund kann sie nicht klarmachen, was an diesem Leben in heruntergekommenen WGs dran sein soll, sie kann es sich ja nicht einmal selber erklären. Sie fühlt sich angezogen von Falk Merlinger, einem Theatermann, Stückeschreiber und Regisseur Heiner Müllerscher Machart, und heiratet dann doch den Jungakademiker Hartmut, mit dem sie eine Tochter gezeugt hat, die später nicht recht weiß, wie sie ihren Eltern beibringen soll, dass sie lesbisch ist. Die kleine Familie zieht den Berufsmöglichkeiten des Mannes nach in eine westfälische Kleinstadt und dann nach Bonn, von wo es Maria wieder nach Berlin zieht, zu dem Theaterfreak Falk, jetzt als dessen Assistentin. Die Ehe lebt seither am Handy und von Wiederbegegnungen im Urlaub in Portugal. Dennoch fasst Hartmut die Ehe so zusammen: „Wir leben. Nicht mehr nur in Träumen, Büchern und Ideen, sondern wirklich und mit Kind. So fühlt sich das an. Es ist normal.“

Diese „Normalität“ hat einige Kritiker unzufrieden zurückgelassen. Und tatsächlich: Homerisches Erzählen ist hier nicht angesagt, auch werden keine Fenster in uns aufgemacht, deren Ausblick wir noch nie gesehen haben. Im Leben der Nachbarn ist eben nicht mehr Aufregung als in unserem – aber auch nicht weniger. Entscheidend ist, wie davon erzählt wird, und hier muss mit aller Energie gelobt werden: Thome ist nicht nur ein kluger, sondern gegenüber seinen Figuren auch sehr empathischer Autor.

Sie interessieren ihn wirklich, und sein feines Gespür für Psychologie und gesellschaftlichen Wandel macht die Erzählung in hohem Maße glaubwürdig: Ob politische Demos, Stunden an der Bar, die Theaterwelt, das Baby und die überforderte Mutter, Portugal, Westberlin, Ruhrgebiet, Streit, Bewerbungsgespräch oder Entjungferung, dieser Autor kann alles so erzählen, dass man etwas erfährt, was man im Zusammenhang des Romans und darüber hinaus wissen möchte.

Diesem Autor kann man sich getrost (wenn auch nicht getröstet) überlassen. Unterstützt wird das durch Thomes große Kunst im Schreiben von Dialogen: Sie klingen immer wie gesprochen, wobei aber, anders als in unserem täglichen Gerede, auch immer etwas verhandelt wird: Es geht um was. Und es geht in dem ganzen, überaus diszipliniert geschriebenen Roman um etwas, um das es von Homer bis Flaubert immer gegangen ist: um das richtige Leben und darum, wie wir es immer verfehlen. ■

Stephan Thome

Gegenspiel

Roman. 464 S., geb., €23,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2015)

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