Taufen mit Schlamm

Woher die Jenischen kamen, weiß man nicht so genau. Klar ist da-gegen, wo viele endeten: im KZ. Thomas Sautner gibt in seinem mit großer Empathie geschriebenen Roman „Die Älteste“ Einblick in die Lebensweise einer Frau aus dieser Volksgruppe.

Wer kennt die österreichischen Volksgruppen: die sechs staatlich anerkannten und die anderen, die diesen Status entweder nicht angestrebt haben oder denen er versagt geblieben ist? Wie viele Jenische in Österreich leben, gut verborgen mitten unter uns, in einem öffentlichen Versteck, in das sie sich nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zurückgezogen haben, ist schwer zu sagen. Jedenfalls sind es Tausende. In ihrer Geschichte hat es für sie in Südtirol, Österreich, der Schweiz, Süddeutschland viele verschiedene Namen gegeben: „Dörcher“ wurden sie genannt, abfällig in der Bedeutung von bettelnden Landstreichern, „Karrnersleute“, was sprachlich wohl damit zu tun hat, dass viele von ihnen als Wanderhändler Karren zogen, „Laninger“, weil sie auf der „Lahn“, auf steilen, ungeschützten Hängen der Alpen, ihre Lager aufschlugen, „Storchen“, „weiße Zigeuner“... Als Jenische bezeichnen sie sich seit je selbst, was laut der Innsbrucker Sprachwissenschaftlerin Heidi Schleich so viel wie „die Wissenden“ oder „die Eingeweihten“ bedeutet.

Woher die Jenischen kamen, ist umstritten. Anzunehmen ist, dass es sich bei ihnen ursprünglich nicht um eine ethnische Gemeinschaft handelte, sondern um eine im 17. Jahrhundert rasch wachsende Gruppe von heimatlos gewordenen Bauersleuten, die ihre Güter verlassen mussten, übers Land zogen, sich bald da, bald dort verdingten und, da sie wandernd überall auf Menschen mit einem ähnlichen sozialen Schicksal stießen, gemeinsame kulturelle Eigenheiten auszuformen begannen und sich eine Geheimsprache erfanden. Am Sonderfall der Jenischen ließe sich studieren, wie Nationalitäten entstehen, durch Zwang und Wille, soziale Veränderungen und ökonomische Notwendigkeiten und nicht, weil die Menschen genetisch dazu vorbestimmt wären, dereinst als Dänen, Letten oder Albaner durchs patriotische Leben zu gehen.

Woher die Jenischen kamen, ist also nur ungefähr bekannt, genau hingegen, wohin der Weg sie führte: Viele von ihnen endeten in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches, andere kamen nur davon, weil die Nationalsozialisten die Vernichtung der von ihnen als „Asoziale“ eingestuften Jenischen erst nach den Juden und den Roma und Sinti vorgesehen hatten. Wie die allermeisten österreichischen Roma haben auch die Jenischen nach 1945 versucht, nicht auf sich und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, aufmerksam zu machen, sondern in der österreichischen Gesellschaft unterzutauchen, gewissermaßen unsichtbar zu werden.

Dass wir überhaupt noch etwas von ihnen wissen, verdanken wir ihnen selbst: Etwa der Schweizer Schriftstellerin Mariella Mehr, die in ihren erschütternden Büchern den Kindheitsraub angeprangert hat, den der Schweizer Staat bis in die 1970er-Jahre an den jenischen Familien verübte, indem er ihnen die Säuglinge und Kleinkinder rücksichtslos entzog, diese in Waisenhäuser steckte oder an kinderlose Familien verschenkte. Oder dem Tiroler Eisenbahner und Dichter Romedius Mungenast, der das alte Jenisch seiner Kindheit als Dichter geradezu neu erfunden hat und nach schmerzensreichem Leiden so früh dahingegangen ist. Neuerdings werden wieder jenische Kulturvereine in Österreich gegründet, und einzelne Autoren experimentieren damit, aus dem Jenischen eine Literatursprache zu machen; hervorzuheben ist die Kärntnerin Simone Schönett, die auf Deutsch schreibt und thematisch nicht auf das jenische Thema reduziert werden darf, aber seit Jahren unerschrocken für ihre Volksgruppe auf- und eintritt.

Wie die Jenischen früher lebten

Der 1970 geborene Thomas Sautner ist vielleicht der einzige österreichische Autor, der keine jenische Herkunft hat und sich dennoch immer wieder literarisch mit den jenischen Österreichern auseinandersetzt. Sein erster Roman, „Fuchserde“ (2006), handelt von zwei jenischen Sippen, deren Lebenswege sich in der Ära der Verfolgung kreuzten, und von dem alten Lois, der einst ein wilder Kerl war und jetzt, steinalt, zum Hüter der Traditionen geworden ist. Seinem Urenkel erzählt er, wie die Jenischen früher gelebt, woran sie geglaubt, womit sie ihre Existenz bestritten haben und dass sie einst nahezu ausgelöscht wurden.

Dieses Erstlingswerk war im Waldviertel angesiedelt und hatte einen weisen alten Mann zur zentralen Gestalt. Fast zehn Jahre später ist Thomas Sautner mit seinem fünften Roman, „Die Älteste“, in diese Region und zur jenischen Volksgruppe zurückgekehrt, nur dass es diesmal, wie schon der Titel verrät, eine alte Frau ist, die das Wissen der Generationen aufbewahrt und an die Künftigen weitergeben möchte.

Thomas Sautner ist ein bemerkenswerter Autor: Er schreibt kluge Essays, die das aufklärerische Anliegen verfolgen, mit Mythen und Legenden der Herrschaft aufzuräumen; er spottet, mit Gerhard Zeillinger einer der wenigen niederösterreichischen Autoren, die das wagen und wollen, über den kulturpolitischen Paternalismus in seiner Heimat; er schreibt wohlinformiert über digitale Verheißungen und Verhängnisse, über eine Technologie, die eine schier grenzenlose Freiheit der Information versprochen und eine vormals unvorstellbare Überwachung ermöglicht hat.

2010 veröffentlichte er einen spannenden Science-Fiction-Roman über ein „Fremdes Land“, in dem das Pensionsalter auf 80 Jahre angehoben wurde und die arbeitende und konsumierende Bevölkerung zu ihrem eigenen Schutz der vollkommenen digitalen Kontrolle ausgesetzt wird. Ein Autor also, den man, wie immer man diese fassen möchte, der Aufklärung verpflichtet glaubt; der sich aber periodisch auch an ganz anderem erprobt.

„Die Älteste“, ein schmaler, stimmungsvoller Roman, erzählt die Geschichte von Sophie, einer tüchtigen Frau um die 40, die als Pressesprecherin in einem Ministerium arbeitet, einen netten Mann, zwei entzückende Kinder und einen inoperablen Hirntumor hat. Die Ärzte geben ihr nur mehr wenige Monate, kein Wunder, dass sie Ausschau hält nach irgendwas, das ihr noch Hoffnung versprechen könnte. Ihre beste Freundin hat von so einer Hoffnung gehört, die im tiefen Waldviertel keimt, und bringt sie mit ihrem Wagen bis an den Rand eines Finsterwalds. Von dort muss Sophie alleine weiter; der Roman beginnt mit einer schönen, auf die Verfilmung wartenden Szene, in der die Städterin, den Trolley auf dem schweren Boden hinter sich her schleifend, mutig in den Wald stapft.

Bald entdeckt sie auch schon den „uralten, mit ausgebleichten Brettern beschlagenen Wohnwagen“, aus dem ihr die „Sagenfigur“ entgegentritt: Lisbeth, die jenische Heilerin, an deren Unterarm noch die Nummer zu sehen ist, die ihr in Auschwitz eingebrannt wurde. Damit sie sich der Kranken, die bei ihr zu genesen hoffen, auch annimmt, muss man ihr dies als Gastgeschenk mitbringen: zwei Flaschen Schnaps, drei Kilo Kaffee und reichlich Tabak. Eine schöne Volte: Die Frau, zu der die „lokale Bevölkerung pilgert, wenn die Ärzte versagten“, hält es noch in hohem Alter mit jenen Genussmitteln, vor denen die Ärzte dringlich warnen.

Als Erstes muss sich Sophie entkleiden, damit sie von Lisbeth ordentlich mit Schlamm aus dem nahen Tümpel beworfen und gewissermaßen naturhaft neu getauft werde, denn: „Du hast nach Stadt gestunken, nach Stress und Angst. Du hast gewaschen gehört.“ Die Jenischen waren berühmt für ihre Naturheilkunde, in der gleichermaßen altes Volkswissen und magisches Denken eine Rolle spielten. Wie aber geht die Heilerin es mit dem Tumor an? Nun, sie lehrt die Kranke Dinge, die einleuchtend nennen wird, wer für esoterische Heilslehren empfänglich ist, und die für ärgerlich hält, wer – so wie ich – gegen diese eine intellektuelle Allergie entwickelt hat. Zuerst muss Sophie begreifen, dass der Krebs nicht ihr Feind, sondern ihr „bester Freund“ ist, ein Teil von ihr, der, ja, tatsächlich, „geliebt zu werden“ verdiene. Aber wie wird man den Freund, der im Gehirn wächst und wächst, wieder los? „Schick ihm Licht und Liebe.“

Alte Heilkunst, uraltes Geheimwissen, jenische Traditionen in Ehren: So etwas heute nicht schlichtweg für Humbug zu halten ist schwer. Warum hat Sophie, diese junge Frau, überhaupt Krebs bekommen? „Der Krebs nährt sich von niederen Gedanken und Emotionen“, weiß die Heilerin, egal ob es sich „um Hass, Neid, Angst, Minderwertigkeitsgefühle, unterdrückte Aggression, Selbstmitleid oder heimliche Feindseligkeiten handle“. Na, bummsti. Unsere Krebskranken haben sich ihre Karzinome also durch ihre schlechten Eigenschaften zugezogen. Daher sind sie auch nicht mit Operationen, Chemotherapien und dergleichen medizinischem Larifari zu heilen, sondern mittels Licht und Liebe. Die moderne Medizin hält, wenn ich das richtig verstanden habe, den Krebs inzwischen für ein genetisches Schicksal, wenn nicht gar für eine Art von zellulärem Unfall.

Die Gesundheitspolizei wiederum verordnet über ihre zahllosen Medienarbeiter immer neue Diäten, die für ein paar Jahre lang als gesund gelten, ehe sie als wirkungslos oder ungesund erkannt werden, und propagieren einen Lebensstil, der schon die Gesundheit so freudlos macht, dass man erst gar nicht mehr krank zu werden braucht, um sich mies zu fühlen. Die esoterische Fraktion jedoch lässt von Thomas Sautner ausrichten, dass die Krankheit eine „Energie“ wäre, „und Energie sei wandelbar“.

Was habe ich in meinem Leben falsch gemacht, fragt sich Sophie daher. Als ein Freund von mir vor einigen Jahren mit gerade 50 gestorben ist, wäre ich nicht auf die Idee gekommen zu überlegen, was er im Unterschied zu seinem Nachbarn, einem 93-jährigen Nazi, der unverdrossen an seinem Bild von der Welt festgehalten hat, alles falsch gemacht haben könnte; oder welche negativen Energien er im Unterschied zu diesem, der für seine Bösartigkeit mit Gesundheit bis ins hohe Greisenalter belohnt wurde, nicht ins Positive habe wenden wollen.

Die letzten naturwüchsigen Europäer

Das Nachwort verrät, dass Sautner für seinen Roman gründlich recherchiert und seine Lisbeth nach einer realen jenischen Heilerin und Sippenältesten gezeichnet hat, die vor wenigen Jahren verstorben ist und im Waldviertel offenbar eine legendäre Erscheinung war. Es steht mir nicht zu, Leute zu kritisieren, die über besondere Heilkräfte zu verfügen meinen; und schon gar nicht jene, die die Hoffnung, wieder zu gesunden, aus den Kliniken hinaus zu Heilerinnen und Heilern treibt.

Aber ich bezweifle, dass man die Jenischen, zu deren kulturellen Traditionen die innige Verbundenheit mit der Natur und das Vertrauen in deren Heilkräfte gehörten, heute sinnvoll würdigen kann, indem man sie zu den letzten naturwüchsigen Mitteleuropäern erklärt, die gegen die Zivilisation mit ihren Krankheiten auf die Heilkraft von Licht und Liebe setzen.

Thomas Sautners Roman, mit großer Empathie verfasst, mag vielen Lesern und Leserinnen außer kundiger Information über eine unbekannte österreichische Volksgruppe auch Trost und Zuspruch bieten; ein heikles Unterfangen ist es trotzdem, Aufklärung über die Jenischen ausgerechnet aus dem Geist der Gegenaufklärung betreiben zu wollen. ■

Thomas Sautner

Die Älteste

Roman. 150S., geb., €16,90 (Picus
Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2015)

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