Kagraner nimmt Platz und redet

Im Café ungestört Zeitung zu lesen – das ist vorbei für den Ich-Erzähler in Gustav Ernsts Roman „Zur unmöglichen Aussicht“. Denn ein Unbekannter verwickelt ihn immer wieder in Gespräche über banale Angelegenheiten.

Gustav Ernst ist ein Meister des tiefgründigen Dialogs in leichter Gewandung. Oft sind es schnelle Wortwechsel zwischen Familienmitgliedern, die sich über banale Dinge entspinnen und in Beziehungskonflikte münden. Doch was da so leichtfüßig als Alltagsgespräch daherkommt, ist mit feinen Spitzen des Humors versehen und stellt durch die pointierte Erzählweise in der Dynamik verquerer Streitenergien Momente des Stillstands her, in denen die philosophische Tiefe der Konfliktsituation als menschliches Grundproblem freigelegt wird. Der Autor macht damit auf amüsante Weise glaubhaft, was sonst nur als Behauptung aus Therapeutenmund bekannt ist: dass nämlich die Anlässe für Alltagskonflikte aus Distanz betrachtet geradezu lächerlich wirken und nur Symptome für ein dahinter verborgenes Problem seien, das allerdings schwerwiegend und deshalb ernst zu nehmen sei.

Der neue Roman von Gustav Ernst trägt den geheimnisvollen Titel „Zur unmöglichen Aussicht“. Auch hier setzt die Geschichte mit einer Alltagssituation ein: Der Ich-Erzähler sitzt auf der Terrasse seines Stammcafés in Wien und liest Zeitung, als ein Unbekannter, den er Kagraner nennt, mit einem banalen Hinweis in sein Leben tritt: „Verzeihung, mein Herr, Ihre Aktentasche.“ Der abgenutzte Gebrauchsgegenstand ist der vordergründige Anlass für eine Kaffeehausbekanntschaft, die die beiden Männer über Jahre miteinander verbindet.

Die Gespräche, die sie hier in unregelmäßigen Abschnitten miteinander führen, sind allerdings sehr einseitiger Natur: Immer ist es Kagraner, der mit einer kryptischen Aussage auf den Plan tritt und sich durch die Fragen des Erzählers Erklärungen aus der Nase ziehen lässt, die abrupt mit einer Pointeenden. Es erzeugt Spannung, wenn man die dahintersteckenden Erlebnisse Kagraners erst nach und nach erfährt. Dazwischen kommentiert der Ich-Erzähler das Gehörte und bringt seine immer größer werdende Unzufriedenheit mit dem asymmetrischen Kommunikationsverlauf zum Ausdruck. Wie Puzzleteile lassen die Anekdoten und Kommentare sich zu einer lückenhaften, so doch plausiblen Lebensgeschichte dieses geheimnisvollen Kagraner zusammensetzen.

Was soll an einem Leben, das sich innerhalb des Rahmens normaler Wechselfälle, zwischen Familie, Beruf, Wohnung, Reisen und Krankheiten abspielt, so geheimnisvoll sein? Kagraner spricht den Erzähler auf seine Aktentasche an, weil sie ihn an einen ehemaligen Freund, einen guten Zuhörer, erinnert, den er aus den Augen verloren hat. Nun ersetzt er diesen aufgrund der gleichen Tasche durch den Ich-Erzähler und setzt die unterbrochenen Gespräche mit einem anderen Gegenüber einfach fort. Kagraner verhält sich genauso, wie es sich anhört: als egomanischer, aufdringlicher Monologisierer, der kein anderes Interesse für den anderen hegt, als in ihm ein gutes Publikum zu haben.

Im Lauf der einzelnen Treffen entpuppt sich Kagraner durch den mysteriösen Tod eines mit ihm befreundeten Filmers und durch einen fremden Mann mit beigem Sakko, von dem er sich verfolgt fühlt, als paranoid. All seine diesbezüglich gehegten Verdächtigungen lassen sein banales Leben aufregender erscheinen, als es ist – eine Strategie, die nicht nur leicht zu durchschauen, sondern, wie seine offensichtliche Hypochondrie, auch amüsant ist. An absurden Begebenheiten fehlt es den Geschichten von Kagraner jedenfalls nicht, ihre komische Wirkung aber entfalten sie vor allem durch die indirekte Erzählweise, wie das Beispiel eines unter einer Dauererektion leidenden Fremden zeigen soll, der sich Kagraner anvertraut hat, wie der Ich-Erzähler berichtet: „,Und was dann?‘, fragte ich. ,Nichts‘, sagte Kagraner, ,ich habe Kaffee gekocht. Wir haben Kaffee getrunken. Er fahre heim, sagt er. Wohl zum Masturbieren, denke ich‘, sagte Kagraner, ,sage es aber nicht.‘ ,Was er ja auch bei Ihnen hätte tun können‘, sagte ich. ,Wie stellen Sie sich denn das vor?‘, sagte Kagraner.“

Die schnell wechselnde Figurenrede führt zu einer szenischen Erzählweise, die eine große Nähe zu den Figuren erzeugt. Die Dialoge kommen darin beinahe den Dramen von Gustav Ernst nahe, unterscheiden sich aber in einem wesentlichen Punkt: Der Autornutzt – ähnlich wie Thomas Bernhard – die Chance der Prosaerzählung dazu, seine Figurenrede durch die Stimme des Erzählers zu filtern und ironisch zu brechen. Zudem sind die Redeformeln („sagte er“, „sagte ich“), die der Ich-Erzähler in seiner retrospektiven Darstellung der Treffen verwendet, so kunstvoll gesetzt, dass dadurch ein Rhythmus mit großer Sogwirkung entsteht.

Jede der Anekdoten ist mit „Die Geschichte von...“ betitelt und verweist damit auf Bert Brechts parabelhafte „Geschichten vom Herrn Keuner“ ebenso wie auf die aus der Mode gekommenen Kalendergeschichten. Doch sind Kagraners Geschichten weit weniger pädagogisch oder moralisierend, vielmehr lassen sie viele Fragen offen und den Erzähler wie die Leserschaft ratlos zurück – bis dann eine andere Geschichte ganz nebenbei die nötige Detailinformation liefert, die dem Gesamtverständnis dient.

Warum Kagraner als Erzähler immer weniger vertrauenerweckend wirkt, warum die beiden Gesprächspartner neben ihren dominanten Ehefrauen noch andere Ähnlichkeiten aufweisen, und was nun das Unmögliche an der im Buchtitel zitierten Aussicht, das eigentliche Geheimnis Kagraners, sein soll, das kommt erst am Ende dieses klugen wie unterhaltsamen Romans ans Tageslicht und soll deshalb auch an dieser Stelle nicht verraten werden. ■


Am 22. April entwirft Walter Hinderer (Princeton) um 16.30 Uhr in der Wiener Alten Schmiede, Schönlaterngasse 9, ein literarisches Porträt von Gustav Ernst.

Gustav Ernst

Zur unmöglichen Aussicht

Roman. 198 S., geb., €19,90 (Haymon Verlag, Innsbruck)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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