Flucht in Ketten

„Der leichteste Fehler“: Die kanadische Autorin Lisa Moore bedient souverän gleich mehrere Genres. Roadmovie, Krimi, Seefahrtsroman bündeln sich zu einer amüsanten Verfolgungsjagd.

Fusionen von Literatur und Genre werden immer beliebter, und das ist gut so. Die Genres werden neu aufgemischt, mit sprachlichen Mitteln exploriert und mit einem Dauervisum für den Wechsel zwischen E und U ausgestattet – selbst die viel geächtete Science-Fiction wurde von Größen wie Margaret Atwood oder T.C. Boyle literarisch nutzbar gemacht. Der jüngste Roman der kanadischen Schriftstellerin Lisa Moore vereint gleich mehrere Folien in sich: Ausbrechergeschichte, Roadmovie, Krimi, Seefahrtsroman. Oder: Flucht in Ketten, Easy Rider, Columbo und Robert Louis Stevenson.

Es beginnt mit dem Kapitel „Suchscheinwerfer“ und einem Gefängnisausbruch. Wir befinden uns im Jahr 1987. David Slaney ist Mitte zwanzig, als er nach vier Jahren Haft beschließt, dieser ein Ende zu bereiten. Grund für sein Einsitzen war der ebenso abenteuerliche wie gescheiterte Versuch, zwei Tonnen Cannabis auf einem Segelboot von Kolumbien nach Kanada zu schmuggeln. Sein Jugendfreund Hearn, Mastermind des Coups, ist zwar ebenso geschnappt worden, aber auf Kaution freigekommen und untergetaucht. Als Anglistikstudent hat er sich eine neue Identität aufgebaut. Nun soll die Geschichte neu geschrieben werden. Hearn und andere Helfer haben Davids Flucht organisiert, denn das Unternehmen Potschmuggel soll noch einmal durchgeführt werden, nur diesmal erfolgreich.

Obwohl der Suchscheinwerfer sekundenlang auf David ruht, wird er nicht gesehen – der erste von etlichen Glücksfällen. Er schlägt sich durch, wechselt Unterkünfte und Mitfahrgelegenheiten, immer in Bewegung, auf Menschen treffend, die ein normales Leben führen, während er ein solches nur vortäuscht. Die Fahndung läuft, und zunehmend stellt sich die Frage: Wem kann der Flüchtige trauen? Wer weiß, wer er ist – weil er ihn mit Radionachrichten und Fahndungsfotos in Verbindung bringt –, und wer hat die Absicht, ihn zu verraten?

Im Original heißt das Buch „Caught“ – schade, dass man das Wort „geschnappt“, das im Text vielfach motivisch variiert wird, nicht auch im Deutschen als Titel verwendet hat. Denn trotz seines immer wieder haarscharfen Entkommens „quälte (David) die Vorahnung, dass er geschnappt werden würde. Als ob das Geschnapptwerden zu ihm gehörte, eine Verantwortung, in die er hineingeboren worden war, so etwas wie ein Adelstitel oder die Königswürde.“ Tatsächlich sind ihm die Behörden längst näher, als er denkt. Der Polizist Patterson, der dringend eine Beförderung zum Inspektor braucht, um die Betreuung seines an Trisomie21 erkrankten Halbbruders zu finanzieren, macht die Überführung der Schmugglerbande zu seiner persönlichen Mission. Spätestens, als der ständig schwitzende, unsportliche – und daher wohl unterschätzte – Gesetzeshüter sich undercover in den Kreis um Hearn einschleust und am Rumpf der Jacht, die für den neuen Coup vorgesehen ist, ein Satellitenortungsgerät anbringt, weiß auch der deutschsprachige Leser, dass DavidsVorahnungen sich erfüllen werden.

Dass das Buch dennoch spannend bleibt,liegt daran, dass man mit dem Helden miträtselt: Wer ist auf seiner Seite? Wer wird der Judas sein, der ihn letztlich verrät? Gibt es möglicherweise verschiedene Spielarten des Verrats? Und es liegt daran, dass nun eine reizvolle Ménage à trois beginnt, ein Kammerspiel auf hoher See. Zum Kapitän bestellt ist der Säufer Cyril, der jedoch einen guten Teil seiner Zeit katatonisch verbringt.

Verhindert der Cop nächsten Coup?

Dessen schöne, blutjunge Freundin, Ada, bringt zumindest das Herz des Lesers zum Klopfen, während David behauptet, er fände sie „kalt“. Ada liest ein Buch nach dem anderen, und wenn sie damit fertig ist, wirft sie es über Bord – das nächste wartet schon. Ebenso verschwenderisch geht die Autorin mit den Abenteuern um, die sie aus einem unermesslichen Fundus zu zaubern scheint. Und dennoch wirkt es weder überfrachtet noch unrealistisch – wenngleich verschiedene Rezensenten bereits angemerkt haben, dass Pot nach Vancouver, einem bekannt hochwertigen Anbaugebiet, zu schmuggeln dem Eulen-nach-Athen-Tragen gleichkomme.

Wie jede gelungene Fusion bietet dieser Roman Vergnügen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Man erkennt die Vorlagen, sieht sie spielerisch variiert und dabei vom Klischee befreit. Das Bedürfnis nach Abenteuer und Spannung wird befriedigt, ohne im Sodbrennen zu viel genossener Seichtigkeit zu enden, denn zurück bleiben die großen Fragen der menschlichen Existenz: nach Selbst- und Fremdbestimmung, Liebe, Vertrauen und Verrat. Handwerklich ist die 1964 geborene Moore eine rare Meisterin. Jeder einzelne Satz ist sorgfältig konstruiert, allein die Kapitelüberschriften mit ihren vielfältigen Bezügen wären eine wissenschaftliche Arbeit wert, und wie sie verschachtelte Rückblenden montiert, ist achtunggebietend. Ihr gelingen Szenen von großem Witz, etwa, wenn David in einem Hotel von einer Braut, die ihn für einen Freund ihres Zukünftigen hält, ins Zimmer gezogen wird, damit er ihr den Reißverschluss ihres Kleides zumacht – just, als die Polizei die Stiegen heraufkommt.

Dass Moore bildende Kunst studiert hat, verwundert nicht, denn das Visuelle ist ihr Fachgebiet: „Er schwenkte das Fernrohr fünfzehn Zentimeter nach links, der Strand sauste vorbei wie ein im Wind flatternder Schal und kam dann jäh zum Halt.“ Manchmal ist es, als würde sie mit ihrem Sprachwerkzeug aus dem Geröll der Oberflächen einen Diamanten nach dem anderen herausschleifen. Allerdings wird der Leser, der die Sprache beim Lesen vergessen will, sie streckenweise als Stolpersteine empfinden, die immer wieder zum Innehalten zwingen, ohne dass die Geschichte weitergeht, als Schnappschüsse, die sich nicht zu einem Film verbinden. Des Problems enthoben wird man in der tatsächlichen Verfilmung sein: Der kanadische Sender CBS wird den Stoff mit dem Serienstar Allan Hawco in der Hauptrolle als Fernsehserie umsetzen. In einem Interview freut die Autorin sich bereits auf die tollen Siebzigerjahre-Klamotten und -Frisuren.

Im Buch wird der zeitliche Kontext in unaufdringlichen Realien lebendig, wenn Menschen in Telefonzellen telefonieren, Kassetten hören oder auf einer Party bei Schwarzlicht den Bump tanzen. Gleichzeitig strahlt die Geschichte in die Gegenwart aus, denn Moore hat zwei große amerikanische Topoi vereint: individuelle Freiheit und staatliche Überwachung. Während David auf dem im Wind dahinflitzenden Segelboot den Rausch der Freiheit verspürt, ist er tatsächlich eine Marionette des Polizisten Patterson, der ihn manipuliert und nie lang aus seinem technisch erweiterten Auge verliert. Das so authentisch wirkende Gefühl erweist sich als im Rahmen einer frühen Truman-Show induzierte Illusion – und ist vielleicht doch, für den Moment, die Wahrheit gewesen. ■

Lisa Moore

Der leichteste Fehler

Roman. Aus dem Amerikanischen Kathrin Razum. 368S., geb., €22,60 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

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