Der Hunger nach Welt

Michael Glawoggers fabelhaftes Buch „69 Hotelzimmer“ sollte zur literarischen Hausapotheke jedes Reisenden gehören. Es vereint witzige, traurige, skurrile, grüblerische, immer sinnenstarke und welthaltige Geschichten, die zum staunenden Innehalten verleiten.

Abermillionen Menschen nutzen das Hotel als Unterkunft, einer Minderheit von ihnen aber ist es mehr, nämlich eine Weltanschauung. Joseph Roth, der sein halbes Leben in Hotels verbrachte und bezaubernde Hotelminiaturen verfasste, wusste genau, warum er sie liebte: „Ich will hier heimisch sein, aber nicht zu Hause. Ich möchte kommen und gehen, kommen und gehen.“ Einzig das Hotel bot ihm jene Atmosphäre, die er zum Leben und Schreiben benötigte, diese Verbindung von Vertrautem und Unpersönlichem, von Versorgung und Unabhängigkeit, und darum behauptete er einmal emphatisch: „Ich bin ein Hotelbürger, ein Hotelpatriot.“

Der im April 2014 vor der Zeit verstorbene Filmregisseur Michael Glawogger war ein fordernder und dankbarer, ein nach zahllosen Nächten immer noch neugieriger und begeisterter Liebhaber von Hotels. Als großer Reisender, der in Bangladesch, Mexiko, Kambodscha, Malaysia und Nigeria für seine Dokumentarfilme recherchierte, war er viele Jahre fast ständig unterwegs. Er hatte offenbar schon vor Langem damit angefangen, in literarischen Skizzen festzuhalten, was ihm in diesen Hotels widerfahren und in jenen auf- oder eingefallen ist.

Als er 2014 zu einer Reise aufbrach, die ihn in einem Jahr um die ganze Erde hätte führen sollen und die in Afrika mit seinem überraschenden Tod an der zu spät erkannten Malaria endete, verfasste er regelmäßig Porträts jener Hotelzimmer, in denen er gerade untergekommen war. Aus den früheren Aufzeichnungen und den bis zuletzt verfertigten Geschichten, über die eine Fülle an scharf gesehenen und leuchtend schönen Details verstreut ist, haben seine Frau, Andrea, und Eva Menasse nun ein fabelhaftes Buch gebaut, das zur literarischen Hausapotheke jedes Reisenden gehören sollte. „69 Hotelzimmer“ vereint witzige, traurige, skurrile, grüblerische, immer sinnenstarke und welthaltige Geschichten, die „die Länge einer Zigarette haben“ und zum staunenden Innehalten verleiten.

Ich kenne einkommensschwache Leute, die eine verhängnisvolle Leidenschaft für teure Hotels hegen, und gut situierte, die sich lieber in billigen Absteigen aufhalten, weil sie dort auf die interessanteren Menschen treffen und ihnen die Zimmer die spannenderen Geschichten erzählen. Glawogger hatte eine Vorliebe für die einfachen Hotels, und auf die Schäbigkeit des Mobiliars legte er wert. Den Luxus sah er in anderen Vorzügen der Ausstattung, etwa darin, dass man die Fenster noch öffnen konnte, rauchen durfte, die Minibar ordentlich gewartet wurde und das Bad „keinen gut designten Wasserhahn“ hatte, bei dem man erst lang herumprobieren muss, wie er funktioniert. Vor allem aber erkennt man „ein gutes Hotel daran, ob direkt über dem Arbeitstisch ein Spiegel angebracht ist“.

Das ist bekanntlich in den meisten Häusern der störende Fall, was nicht nur Glawogger die Freude am standardisierten Interieur vergällt: „Der Spiegel geht davon aus, dass man sich nicht im Hotelzimmer aufhalten, sondern fürs Leben draußen zurechtmachen will.“ Die Welt, die draußen liegt, hat Glawogger als tüchtiger Stadtwanderer zwar erkundet, aber das Hotelzimmer war ihm dennoch mehr als nur ein Basislager, von dem man aufbricht und in das man nach Stunden erschöpft zurückkehren mag. Es ist vielmehr ein Ort, an dem man die Eindrücke der fremden Stadt auf sich wirken lassen und sie mit Erinnerungen an andere Zeiten, Regionen, Menschen verbinden kann.

Intim am Leben anderer teilhaben

Das Hotelzimmer eignet sich also hervorragend dafür, dass man seiner selbst in der Fremde neu gewahr werde, und da es einen zudem auf distanzierte und doch intime Art am Leben anderer Menschen, etwa des Zimmermädchens oder der Zimmernachbarn, teilhaben lässt, stellt es nicht weniger dar als die kleine Welt, in der es die große zu entdecken gilt.

Alle diese Geschichten vom Glück des Reisens und Ankommens, vom Wert des Scheiterns und der Freude am Dasein schlagen, so kurz sie sind, den Bogen aus der Gegenwart in die Vergangenheit, von dem einen Zimmer in Baku, Graz, Salt Lake City hinaus zu Städten auf allen Kontinenten. Glawogger erzählt nicht in der Ich-Form, sondern von einem Er, das aber unverkennbar autobiografisch gefasst ist; auf fast schon altmeisterliche Art weiß er jede einzelne der Episoden, in deren Zentrum der namenlose Hotelgast steht, so zu runden, dass deren Ende erhellend auf den Anfang verweist.

Herrlich gelingt das etwa im Kapitel mit der Zimmernummer7, das mit „Mexiko-Stadt, 1993“ datiert ist und so beginnt: „Es erzeugte ein heimatliches Gefühl in ihm, wenn er in Mexico City ankam und aus der Nase blutete.“ Diese Stadt liebt der Reisende, der in raue Bezirke mit ihren randständigen Menschen vernarrt ist, vielleicht noch mehr als alle anderen. Es mag an der schlechten Luft oder an der Höhenlage Mexikos liegen, jedenfalls beginnt der Gast auch dieses Mal aus der Nase zu bluten, kaum dass er sein Zimmer bezogen hat. Er setzt sich auf die Terrasse, legt den Kopf zurück und schaut in den Himmel, an dem er eine Maschine der Delta Airways im Landeanflug entdeckt.

Nun beginnt ein wunderbarer Film in ihm zu laufen. Er imaginiert sich eine Stewardess, die in diesem Flugzeug Dienst hat und sich freut, bald nach ihrer Ankunft ihre aus Österreich stammende Freundin in einem Café zu treffen. In einem einzigen Absatz zeichnet Glawogger das feine Charakterbild einer desillusionierten Frau in der Mitte ihrer Jahre, die ihre Würde mittels strenger Rituale zu wahren trachtet.

Im nächsten Absatz sehen wir sie einige Stunden später, wie sie ein Café betritt, aber der Text folgt ab diesem Punkt nicht mehr ihr, sondern dem älteren mexikanischen Herrn, der ihr die Tür offen hält und nervös daran denkt, wie die Dame, mit der er verabredet ist, auf seinen Heiratsantrag reagieren wird. Im nächsten Absatz erfahren wir von den Freuden und Leiden dieser Dame, während der darauffolgende sich dem Kellner zuwendet, der hier serviert, und zu der Köchin führt, die er begehrt. Jeder Absatz ist ein neuer Anfang, führt einen weiteren Protagonisten mit seinem besonderen Schicksal ein; und was Glawogger so auf Zigarettenlänge gelingt, das ist ein zauberhafter Roman en miniature, der auf vier Seiten mehr an Welt aufzubieten hat als mancher seiner großen Brüder, die so viel Aufhebens von sich machen. Die originelle Schlusswendung führt wieder zum Anfang zurück, zu dem Mann, der aus der Nase blutet, nur lässt Glawogger am Ende Träumerei und Realität leichthin in eins fließen.

Kein Zweifel, in Michael Glawogger, dem Regisseur, steckte ein originärer Autor, mit Sinn für Form und Sprache und mit jenem Hunger nach Welt, der wächst, je mehr man von ihr schon gekostet hat. ■

Michael Glawogger

69 Hotelzimmer

Mit einem Nachwort von Eva Menasse. 404S., geb., € 42 (Die Andere Bibliothek, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.