Die Dichter lügen

Dreimal Schnitzler: die Familie, die Liebschaften und die Zweifel. Drei Bücher über den Dichter, der einem österreichischen Namen Weltgeltung verschaffte, bringen Alt- und allzu Bekanntes, aber auch einiges Neues.

Bürgerliche Familiengeschichten ver- laufen meist über drei Generationen nach dem „Buddenbrooks“-Muster: Aufstieg, Höhepunkt und Verfall. Anders bei den Schnitzlers. Da geht die Erfolgsgeschichte nun schon in die fünfte Generation. Die deutsche Autorin Julia Jacobi hat sich dieser Familie angenommen. Sie zeichnet den üblichen Verlauf jüdischen Geschicks nach, von der Immigration, Emanzipation, Assimilation, Absorbtion bis zur erzwungenen Emigration und Rückkehr nach Wien.

Wenn man diesen Verlauf von der Mitte des 19. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts unter ein Motto stellen wollte, so wäre es das einer unbedingten Eigenwilligkeit ihrer Protagonisten. Die Repräsentanten jeder Generation verfolgen das Ziel, aus dem Schatten ihrer Väter herauszutreten, nicht nur ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen, sondern damit auch überdurchschnittlichen Erfolg zu haben. Vom Gründervater Johann, der sich als mittelloser Student aus einer Kleinstadt im Westen Ungarns nach Wien aufmachte und hier zum berühmtesten Laryngologen seiner Zeit wurde, über seinen Sohn Arthur, der dem Namen Weltgeltung verschaffte, zu dessen Sohn Heinrich, der als Schauspieler und Regisseur die Bürde des Exils tragen musste, es aber auch am schwersten hatte, mehr als nur der Sohn des berühmten Autors zu sein, dessen Nachlass er auf bewundernswerte Weise verwaltete.

Dessen Söhne Peter und Michael, Filmemacher und Konzertmeister der Wiener Symphoniker, setzten die Kontinuität des Erfolgs auf eigene Weise fort. Peter Schnitzler, der als Nachlassbewahrer seines Großvaters Stanley Kubrick dazu brachte, die „Traumnovelle“ zu verfilmen, und Michael Schnitzler, der nach seiner Karriere als Orchestermusiker durch aufwendige Aktionen zur Rettung des Regenwalds von Costa Rica beitrug.

Neben diesen Ruhmesblättern darf das Schicksal der begleitenden Frauen nicht vergessen werden. Da blieben die Konflikte und Entsagungen nicht aus. Schnitzlers Frau Olga verzichtete auf ihre Karriere als Schauspielerin, wobei man es sich zu leicht machen würde, ihr mangelndes Talent zu attestieren. Und Lilly, die Frau Heinrich Schnitzlers, gab ihre Orchesterkarriere als Violinistin der Familie zuliebe auf.

Jutta Jacobi macht aus der materialreichen Geschichte eine Melange aus wissenschaftlicher Wissbegier und privaten Erlebnissen. Wenn man sich mit ihrem feuilletonistischen Stil angefreundet hat, kann man auch lässige Mitteilungen wie „Das Wetter ist mal so, mal so“ verschmerzen. Nicht allerdings die mangelhafte Einbeziehung des Werks Arthur Schnitzlers in sein Leben. Das Hauptwerk, den Roman „Der Weg ins Freie“, mit seiner Gesellschaftsanalyse und Verarbeitung privater Erlebnisse, nicht zu erwähnen, ist eher fahrlässig. Aufregende Passagen gelingen der Autorin etwa bei der Auswertung des Briefwechsels von Heinrich Schnitzler mit seiner Mutter Olga zur Überlebensmühe des amerikanischen Exils.

Dass Schnitzler sexbesessen war, ist längst durch Publikationen und Ausstellungen ruchbar geworden. Wie die Frauen dazu standen, wurde bisher weitgehend vernachlässigt. Pedant, der er war, hat sich Schnitzler die Briefe der zahlreichen Geliebten aufgehoben. Und er gab im Tagebuch Rechenschaft über die Befriedigung seiner Begierden. Beides kann gegen ihn verwendet werden. Jetzt hat ihm einer den Prozess gemacht. Enthüllungen hardcore. Der Autor Rolf-Peter Lacher fungiert dabei nicht als Richter oder Verteidiger, sondern als öffentlicher Ankläger. Er hat detektivisch ermittelt und vermutet hier eine venerische Erkrankung, dort eine Sepsis nacheiner verheimlichten und als Blinddarmdurchbruch auf dem Totenschein deklarierten Abtreibung.

Dass Schnitzler Selbsterlebtes für seine Werke ausgebeutet hat, ist oft genug gesagt, aber noch nie so akribisch belegt worden. Dass er dabei Gerichtstag hielt über sich selbst und männliche Selbstgerechtigkeit, Egozentrik, Arroganz verurteilte, hält Lacher für wohlfeil. Ihn interessiert allein das Schicksal der Frauen, die Arthur Schnitzler liebten und von ihm verlassen wurden. Schnitzler, der großbürgerliche Macho, erregt seine Abscheu. Die einseitige Parteinahme für die von Schnitzler ausgenützten Frauen, die den kitschigen Pauschalnamen „süßes Mädel“ verpasst bekamen, ist rührend. Entschuldbar sind die Verdächtigungen und Misshandlungen nicht, mit denen Schnitzler die Frauen quälte. Auch wenn er in seinem Werk das eigene Verhalten missbilligte. Vor der Moral hat die Ästhetik ihr Recht verloren.

Wo Lacher den Skandal findet, sucht Gerd K. Schneider nach dem Unwahrscheinlichen. Auf Okkultes in Schnitzlers Werk wurde zwar schon vereinzelt hingewiesen, aber noch nie so umfassend und gründlich. (Auch noch nie mit so vielen Druckfehlern.)

Schnitzler griff Erkenntnisse seiner Zeit auf, etwa die Kraftlehre Robert Mayers oder Nietzsches These von der ewigen Wiederkehr, Hypnose und Traumdeutung. Beim Übersinnlichen hatte er seine Zweifel, gab aber zu, dass unerklärliche Phänomene nur deshalb als okkult gelten, weil ihre physikalische Gesetzmäßigkeit noch nicht bewiesen ist. Schneider verweist auf den Schmetterlingseffekt (der Schlag eines Flügels kann größte Wirkungen erzeugen), der 1972 von Edward Lorenz beschrieben wurde. Schnitzler hat ihn schon 1911 in seiner Parabel „Die dreifache Warnung“ dargestellt. Für Schneider rückt Schnitzler näher an C.G. Jung, der dem Okkulten zugeneigt war, als an den rationalistischen Freud. Wobei man Schnitzlers Augenzwinkern berücksichtigen sollte: Getreu nach Platon – die Dichter lügen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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