Dem Treiben der Müllmänner zuschauen

In Nicholson Bakers Essays geht es um alles, nur nicht um Sex. „So geht's“: der Kraut-und-Rüben-Glücksfall eines Buches über die Welt, wie sie wirklich funktioniert.

So geht's“: ein Buch, das ich auch dann empfehlen würde, wenn es nicht ein Buch wäre, das man wärmstens empfehlen sollte. Denn es ist ein Buch von Nicholson Baker, der zu den sympathischstenAutoren gehört, die Amerikas literarische Szene bevölkern. Baker, Jahrgang 1957, schaut mit seinem schneeweißen Vollbart ein bisschen aus wie Santa Claus. Zu Recht, denn er hat uns den Sex als eine Sache vor Augen geführt, von der man sich wünscht, sie möge einem am Weihnachtsmorgen in einem Riesensocken überm Kamin geschenkt werden. Mit Kitsch hat das nichts zu tun. Eher damit, dass auch die Erektion, die sich angeblich nicht ironisch darstellen lässt, es verdient, mitfreundlicher Anteilnahme und einer kindlich-surrealen Lust am erotischen Detail behandelt zu werden, und zwar beflügelt von der „glücklichen Illusion“, dass, Kampf der Geschlechter hin oder her, „alles sich fügt“.

Zu dieser heute selten gewordenen Ansicht mag Bakers Sinn für einen „gepflegten“,weil traditionsbewussten Stil beigetragen haben, der aus dem Leben eine Haltung formt. Nicht zufällig bewundert Baker den Schreibgiganten John Updike, und zwar aus folgendem Grund: Gedanken hat bald einer, aber die Kunst besteht darin, ihnen, die zunächst reichlich ungepflegt herumlümmeln, eine Einladung zwecks Verschriftlichung zu schicken, wozu erbeten wird, im „Abendanzug“ zu erscheinen: „Legen Sie Ihre besten Interpunktionsmanschetten an – und sie, seine Ideen, sind ihm gefolgt, wiederholt.“

In „So geht's“ geht es um alles, nur nicht um Sex. Entstanden sind die Essays zwischen 2003 und 2010. Das Ergebnis ist der Kraut-und-Rüben-Glücksfall eines Buches: eine kleine Anthologie über das Leben im Zustand des Beinahe-Wissens – eines Wissens, das Luft lässt zum Durchatmen, weil immer noch etwas bleibt, worauf man neugierig sein darf. Der letzte Essay handelt vom Rasenmähen. Dort liest man: „Und immer mal wieder, an einem perfekten Vormittag wie diesem jetzt, hat man die glückselige Illusion, dass alles, was man weiß, sich fügt.“

Baker spricht von einer glückseligen Illusion, was einschließt, dass die Realität, als das Reich der „Fakten“, etwas ist, von dem sich nicht sagen ließe, dass in ihm alles, was man weiß, sich fügt. Doch der Angelpunkt des Baker'schen Universums der Alltagsdinge besteht darin, dass die Illusion Teil der Realität ist. Das ist kein simpler Trick, sondern die Anschauungsweise eines inspirierten Autors, der es fertigbringt, sonntags am Rande der Müllkippe seines Städtchens SouthBerwick, York County, Maine, zu sitzen und dem Müllentsorgungstreiben mit dichterischen Augen und Ohren beizuwohnen.

Doch Baker ist kein romantisierender Hans-guck-in-die Luft, der, wo Dreck ist, bloß Schäfchenwolken am blitzblauen Himmel sieht. Er benennt die Beiträge der USA für die Weltzivilisation mit klarem Blick fürs Wesentliche. Es sind drei: das Magazin „The NewYorker“, der Film „Manche mögen's heiß“ und das iPhone. Darüber hinaus gehört Baker zu den schärfsten Kritikern der Verluderung und Schändung des Bibliothekswesens durch die Elektronik. Denn wie er in einem vortrefflich recherchierten Beitrag zeigt, stecken dahinter Bereicherungsstrategien akkurat der größten Förderer digitaler Katalogisierungssysteme. Installiert in weiträumigen Bibliotheksprotzbauten aus Glas und Stahl, aber mit viel zu wenig Laufregalfläche, führt der Fortschritt dazu, dass Hunderttausende von Büchern, darunter viele selten gewordene, zu Müll gemacht werden. Bakers Botschaft: „So geht's nicht!“

Womit ich beim Titel angelangt wäre. Allgemein wird Eike Schönfeld, der das Werk Bakers übersetzt, hoch gelobt. Zu Recht. Ich weiß nicht, wer den Titel „So geht's“ vorschlug, „The Way the World Works“ heißt das amerikanische Original, und ebendies will uns Baker zeigen: wie die Welt der Alltagsdinge funktioniert, manchmal besser, manchmal schlechter, aber zum Glück häufig so, dass sie sich der Poesie erschließt – vorausgesetzt, man benützt beim Schreiben Mack's orange Ohrstöpsel. „Löst man den Daumen von einem hineingestopften Stöpsel, stößt das Trommelfell einen winzigen, stummen Schmerzensschrei aus, wie ein Wort auf Arabisch. Dann weiß man, dass man eine gute Abdichtung hat.“ ■

Nicholson Baker

So geht's

Essays. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. 384S., brosch., €25,70 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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