Wo Messer zu guten Freunden werden

„Das grüne Rollo“: Heinrich Steinfest verbindet in seinem überbordenden Science-Fiction-Roman Reales und Fantastisches und verliert sich in grünen Welten.

Der mit hoch originellen Kriminalromanen bekannt gewordene Heinrich Steinfest hat die Grenzen dieses Genres hinter sich gelassen und sich längst als sprachmächtiger, einfallsreicher Autor etabliert, dessen Produktivität kaum zu bremsen ist. Kurz nach seinem auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises platzierten Roman „Der Allesforscher“ legt Steinfest ein neuerliches Zeugnis seines überbordenden Einfallsreichtums vor. „Das grüne Rollo“ sprengt alle Gattungsbezeichnungen; mal scheint der Roman Science-Fiction-Mustern zu folgen, mal weitet er sich zu einem magisch-philosophischen Erzählen aus, ehe er in einem Epilog wissenschaftliche Kausalitäten zu bemühen scheint.

Erzählt wird aus der Zukunft des Jahres 2050 heraus. Der Astronaut Theo März, so alt wie sein Jahrhundert, nimmt an einer Expedition zum Mars teil, als ihm bei einem Kontrollgang durch das Raumschiff ein grünes Rollo auffällt, das ihn, zusammen mit einer überforderten Katze, in das Zwischenreich Greenland entführt. Theo ist diese Welt, in der Feldstechermänner mit scharfen Augen kleine Mädchen quälen, Mütter als Meisterdiebinnen arbeiten, man ungarische Namen trägt, ohne das Land Ungarn zu kennen, extrem flexible Messer zu guten Freunden werden und degradierte Köche grandiose Sandwiches zuzubereiten verstehen, nicht unbekannt. Als Zehnjähriger war er Stammgast in der Hauptstadt Greenlands – wenn allabendlich in seinem Kinderzimmer plötzlich ein grünes Rollo am Fenster auftauchte und den verstörten Jungen mit Haut und Haaren nach Greenland beförderte.

Dort hatte der junge Theo zahlreiche Abenteuer zu bestehen, bedroht von denFeldstechermännern, die nicht verhindern können, dass es Theo gelingt, eines der gequälten Mädchen, Anna, in Sicherheit zu bringen und in sein Kinderzimmer zu überführen. Auf diese Weise vergrößert sich Theos Familie mit einem Mal, ohne dass sich seine Eltern oder sein Bruder von diesem Zuwachs überrascht zeigen. Greenland-Anna wird mühelos integriert und entwickelt sich zu einer trinkfreudigen, erfolgreichen Schriftstellerin. Als Theos Tante in Düsseldorf den Auftrag erhält, den unheimlichen Sichtschutzzu zerstören, scheint der Spuk vorbei – bis er eben 40 Jahre später auf dem Weg zum Mars wieder einsetzt.

Heinrich Steinfest findet großen Gefallen daran, scheinbar Reales und scheinbar Fantastisches miteinander zu verbinden. Zeichnungen des Autors illustrieren das Erzählte, als seien wir in einem Alfred-Kubin-Roman, und auch der Verlag hat keine Kosten gescheut und jene Passagen, die im grünen Bereich spielen, farblich passend gedruckt. Es macht Spaß, sich dem bewusst langsam voranschreitenden Erzählen Steinfests hinzugeben und Seh- und Denkgewohnheiten infrage zu stellen. Von bösen und segensreichen Mächten ist da viel die Rede, und wer dem „Grünen Rollo“ philosophischen Gehalt unterschieben möchte, findet dafür genügend Ansatzpunkte.

Dass der Roman in der Tradition von E.T.A. Hoffmann, Lewis Carroll und Stanley Kubrick stehe, verkündet bereits die Verlags-ankündigung stolz, und mühelos lassen sich im Text selbst versteckte oder offenkundige Anspielungen auf Filme, Kunstwerke oder literarische Titel finden. Das Raumschiff trägt so den Namen Villa Malaparte, wie jenes zweigeschoßige, für den Schriftsteller Curzo Malaparte erbaute Felsenhaus auf Capri, das wiederum Schauplatz in Godards „Die Verachtung“ ist. Und da Steinfest seit Langem in Stuttgart lebt, denkt man hier und da auch an den seinerzeit viel gelesenen Nachkriegsroman „Die Stadt hinter dem Strom“ des Stuttgarter Autors Hermann Kasack, der seine magisch grundierte Handlung ebenfalls in einem Zwischenreich ansiedelt.

Je länger man Steinfests vielschichtiger Prosa freilich folgt, desto wackliger erscheint deren Konstruktion. Warum Theos gescheiterte Ehen mit einer Verkäuferin und einer Friseuse ausgebreitet werden und warum Letztere eine Affäre mit einem der zahlreichen Söhne Theos anfängt, leuchtet nicht ein. Wie überhaupt Theos später Ausflug nach Greenland einige Redundanzen aufweist und nur vor dem Hintergrund des Romanepilogs eine halbwegs plausible Funktion erhält. Was auf diesen Schlussseiten als Erklärung des Hausarztes Dr. Winter folgt, ist ohnehin eine Schwachstelle des ganzen Romans. Denn die – hier nicht zu verratende – Erklärung dessen, was es mit Theos Expeditionen ins Grüne auf sich hat, nimmt den vorangegangenen knapp 270 Seiten viel von ihrer Wirkung. So schlägt man „Das grüne Rollo“ schließlich fast enttäuscht zu.

Es sieht so aus, als müsste der mit so vielen Talenten ausgestattete Heinrich Steinfest seine mäandernde Fantasie mitunter ein wenig zügeln und einem einzelnen Roman nicht zu viel aufbürden. Dem „Grünen Rollo“ hätte das gutgetan. ■

Heinrich Steinfest

Das grüne Rollo

Roman. 288S., geb., €20,60 (Piper
Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.