Chancen auf so ein Kleeblatt?

Bei Arbeiten in Wäldern – da steigt das Risiko, oft vom Blitz getroffen zu werden. Das ist zu verstehen – schwerer ist die Erklärung anderer Ereignisse. David J. Hands Buch über die „Macht des Unwahrscheinlichen“.

Der Paragraf 188 des Strafgesetzbuchs verfügt: „Wer öffentlich eine Person oder eine Sache, die den Gegenstand der Verehrung einer im Inland bestehenden Kirche oder Religionsgesellschaft bildet, oder eine Glaubenslehre, einen gesetzlich zulässigen Brauch oder eine gesetzlich zulässige Einrichtung einer solchen Kirche oder Religionsgesellschaft unter Umständen herabwürdigt oder verspottet, unter denen sein Verhalten geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.“

Nichts zu befürchten hat aber, wer einen rational denkenden Menschen, wer die Vernunft herabwürdigt oder verspottet, auch wenn er damit berechtigtes Ärgernis erregt. Wer jemanden beschimpft, weil er Astrologie oder Hexenglauben für eine Form von Schwachsinn hält, wer seiner Umwelt einreden will, dass er ein System kennt, mit dem ihm ein Gewinn im Roulette oder in der Lotterie sicher sei, muss weder mit einer Freiheits- noch mit einer Geldstrafe rechnen. Über Statistik darf man dümmliche Witze machen, über den Glauben nicht.

Die Unerschütterlichkeit, mit der sich solcher Aberglauben hält, hat eine simple psychologische Ursache: Die Verführung des Glücksversprechens, der Hoffnung auf eine Lösung quälender Probleme ist einfach zu stark, als dass man mit Logik und Vernunftargumenten gegen sie ankäme. Da nützen auch die unbestechlichen Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung nichts, wie sie jeder Gymnasiast in der Schule lernt. Was man gern hätte, setzt das, was ist, gegen alle Räson außer Kraft. Und die Schwindler, die Betrüger und die Casinos – also nicht zuletzt der Staat – verdienen daran. Sie werden sich hüten, die Schuldigen an diesem Ärgernis hinter Gitter zu setzen. David J. Hand formuliert es so: „Das grundlegende menschliche Streben nach Sicherheit und Geborgenheit sorgt für ein grundsätzliches Unbehagen angesichts der Vorstellung, bestimmte Dinge könnten einfach nur zufällig geschehen.“

Hand ist Mathematiker. Nun schützt auch dies nicht vor Irrationalismus. Man kennt Vertreter der exakten Wissenschaften, die jenseits ihrer Forschung unwissenschaftliche Glaubenssätze verkünden, und es soll Psychoanalytiker geben, die sich mit Wahrsagern über ihre Klienten beraten. Aber immerhin kann ein Mathematiker berechnen, ob, was andere für mirakulös halten, nur der statistischen Wahrscheinlichkeit entspricht, oder ob es wirklich auf transzendente Kräfte verweist. Er kann analysieren, was sich hinter Begriffen wie Zufall oder Koinzidenz und deren Darstellung in Zahlen verbirgt. Für ihn sind Kategorien wie Risiko, Chance und sogar Chaos keine nebulösen Größen.

Ausführlich illustriert Hand das Gesetz der ganz großen Zahlen (nicht zu verwechseln mit dem mathematischen und für die Statistik wichtigen Gesetz der großen Zahlen), das besagt, „dass wir bei einer hinreichend großen Zahl von Gelegenheiten erwarten sollten, dass ein bestimmtes Ereignis geschieht, ganz gleich, wie unwahrscheinlich es bei jeder einzelnen Gelegenheit sein mag“. Hand führt triviale Beispiele an: Nur rund einer von 10.000 Kleestängeln hat vier Blätter, aber es gibt Menschen, die solche Exemplare finden. Die Wahrscheinlichkeit, dass beim Roulette 26 schwarze Zahlen hintereinander angezeigt werden, ist noch wesentlich geringer, nämlich eins zu 137 Millionen, aber genau das geschah am 18. August 1913 in Monte Carlo. Dafür bedarf es keines Wunders und keiner metaphysischen Erklärung, nur des Gesetzes der ganz großen Zahlen.

Hand zeigt auch, wie sich Wahrscheinlichkeiten beeinflussen lassen, und formuliert ein Gesetz des Wahrscheinlichkeitshebels, dem er neben Gesetzen der Unvermeidlichkeit, der Selektion und der annähernden Genauigkeit ein Kapitel widmet. Es besagt, „dass eine kleine Veränderung bei den Begleitumständen eine gewaltige Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeiten haben kann“. Ein Beispiel ist die äußerst geringe Wahrscheinlichkeit, siebenmal vom Blitz getroffen zu werden. „Aber es wird schon sehr viel weniger unwahrscheinlich, wenn man sein Leben damit verbringt, bei Gewitterstürmen im Nationalpark Dienst zu tun.“

Auch erstaunliche Phänomene der Wirtschaftsentwicklung, zum Beispiel im Oktober 1987, lassen sich damit erklären. „Die Finanzbranche weiß heute, dass die Schwankungen der Finanzmärkte zwar annähernd normal verteilt sind, aber eben nicht ganz genau. In diese Lücke kann sich das Gesetz des Wahrscheinlichkeitshebels einschleichen, sich der sehr kleinen Abweichungen vom Normalzustand bedienen, sie verstärken und dann in der weiteren Entwicklung zu einer gewaltigen Wirkung führen.“

Es gibt in der englischsprachigen Literatur eine lange Tradition der verständlichen, ja amüsanten Aufbereitung wissenschaftlicher Einsichten für interessierte Laien. In den deutschsprachigen Ländern ist sie selten. Da herrschen terminologische Hochstapelei und pseudotheoretisches Imponiergehabe vor, die verdecken sollen, dass der wissenschaftliche Erkenntniswert gegen null tendiert. Typisch für die englischsprachigen Publikationen ist die Fülle von Fallbeispielen und oft der direkte Appell an Erfahrungen der Leser. Beides findet man auch in David J. Hands Buch. Es beweist erneut, dass Belehrung kurzweilig sein kann. Vorausgesetzt, es liegt ihr Wissen zugrunde und nicht bloß Bluff. Der reicht nur für Abergläubische. ■

David J. Hand

Die Macht des Unwahrscheinlichen

Warum Zufälle, Wunder und unglaubliche Dinge jeden Tag passieren.
Aus dem Englischen von Werner Roller. 288S., geb., € 20,60 (C.H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2015)

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