Sechs Geiseln haben keine Antwort

In Dave Eggers' Kammerspiel macht ein enttäuschter Mann gefangene Bekannte für seine Sinnkrise verantwortlich.

Als ob vor ein, zwei Jahren zwei der wichtigsten Vertreter der mittleren US-Autorengeneration bei einem Treffen über schmerzende Leerstellen in der aktuellen US-Literatur diskutiert hätten: Nach T.C. Boyles zuletzt erschienenem Roman, „Hart auf hart“, in dem sich Schulleiterssohn Adam in die Rolle des Trappers Colder fantasiert und eine Blutspur nach sich zieht, nun ein weiterer „Held“ mit Gewaltbereitschaft aus Weinerlichkeit: Dave Eggers lässt in „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ (es gab schon kürzere Romantitel!) den von der Realität enttäuschten Idealisten Thomas ausklinken. Beide Figuren haben ein „schweres Räderwerk im Kopf, das droht, uns den Schädel zu sprengen“, und sind bereit, einen Privatkrieg gegen „Feinde“ zu führen. Sogar die ersehnte Frau hat den gleichen Namen: Sara. Gut, vielleicht ist alles nur Zufall.

Thomas wuchs bei seiner Mutter auf, der er Promiskuität vorwirft. Einer ihrer Lover hat nach der Trennung das halbe Haus ausgeräumt. Auch Toms Kindheits- und Jugendfotos sind dabei verschwunden – quasi eine Amputation der Existenz in Facebook-Zeiten. Anschließend hat er zwar Luft- und Raumfahrtstechnik studiert, aber alle Karriereträume zerplatzten (wohl auch aus eigener Schuld). Nun setzt er seine lang gehegten Wut- und Rachefantasien in die Tat um. Er hat einen verlassenen Militärstützpunkt gefunden und entführt sechs Personen dorthin, um sie in getrennten Gebäuden an Säulen angekettet zu verhören. Erstes Opfer ist der frühere Astronaut Kevin, der als Lehrer sein Idol war. Aber das Shuttle-Programm ist eingestellt, bei Weltraumexpeditionen muss man sich (ausgerechnet!) bei den Russen einmieten. Thomas („Ich bin ein Mann mit Moral, mit Prinzipien“) hält dies für einen Verrat an seinen und des Landes Idealen. Vielleicht kann ja der im Vietnam-Krieg verletzte Kongressabgeordnete, auch ein Idol seiner Jugend, ihm diesen Skandal erklären – also entführt und verhört Thomas auch ihn.

Eigentlich hat Thomas nur einen Menschen auf der Welt gern gehabt: seinen Jugendfreund Don, Sohn eines Amerikaners und einer Vietnamesin. Doch jener ist, nachdem er in einem Anfall religiösen Wahns in einer Geschäftsfiliale krakeelt hatte, von Polizisten beschossen worden (Ausländer!) und im Spital gestorben. Der Fall musste vertuscht werden. Also verschleppt nun Tom den Cop, den er für den Mörder hält, und eine Spitalsfunktionärin, die weder ihn noch Dons Mutter zu dem Sterbenden gelassen hat, zur peinlichen Befragung. Ein bisschen hat er ja schon am Krankenhaus gezündelt. Er will jetzt genaue Auskunft über den Tod seines Freundes.

Einen früheren Lehrer, der kleine Kinder recht gern hatte und spontan Tage und Wochen bei sich wohnen ließ, wenn die Eltern verreisten, „kasernierte“ Tom ebenfalls. Denn auch mit Don hatte der Pädagoge sein „Schneiderspiel“ getrieben: das Abmessen der Innenlänge der getragenen Hose – ein unangemessenes, aber gesetzeskonformes Verhalten, wie der Lehrer zugibt. Auch die Mutter darf bei der Feindesreihe nicht fehlen, also her mit ihr – in diesen Gesprächen kommt die Wahrheit über Tom ans Licht. Er flitzt nun zwischen den Baracken umher und stellt seine Fragen. Bis auf die Ruhepausen, die Gespräche mit Sara. Er hat diese ihm unbekannte Tierärztin (bei Boyle war jene Sara als Hufschmiedin bei Pferden tätig) am Strand aufgelesen, in seine Festung eingeladen und zur Traumfrau erkoren. Sogar von gemeinsamer Flucht und Beginn eines neuen Lebens träumt er bei einem von Saras Besuchen. Doch dann nähert sich der Lärm von Militärflugzeugen – und man ahnt: Das wird kein gutes Ende nehmen.

Eggers' Buch hat zwar die Bezeichnung Roman, aber keinen Erzähler. Es besteht nur aus Dialogen zwischen Entführer und Opfer und kann so auch als Vorlage für einen Film, ein TV-Spiel oder ein Bühnenstück dienen. Ohne epischen Zeigefinger demaskiert sich jeder allein durch die Art seines Redens. Keiner ist wirklich sympathisch. So antwortet der Politiker auf Toms Klage, die Welt habe für ihn kein Projekt, dem er sich mit ganzer Kraft widmen könne („Keine Vision hat sich je erfüllt, kein Versprechen ist je eingehalten worden!“), recht zynisch: „Wenn es nach mir ginge, würden junge Männer so lange tiefgefroren, bis wir wissen, dass sie selbstständig eine Straße überqueren können, ohne irgendeinen Scheiß zu bauen.“

Nun ist die Figur des jugendlichen Rebellen ja ein Standard in der US-Kultur – von James Dean über Elvis Presley bis zu ihren heutigen Erscheinungsformen. Doch die aktuellen Buch-„Helden“ sind keine diskriminierten Außenseiter – ihre Gewaltbereitschaft erwächst aus der Mitte der Gesellschaft. Nicht Not treibt sie an, sondern Wut, Enttäuschung, Langeweile. Manchmal werden sie Amokläufer, IS-Touristen oder auch nur Mitläufer rechtsrabiater Krawallparteien. ■

Dave Eggers

Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?

Roman. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. 224S., geb., €19,60 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2015)

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