Moses verhüllt sein Antlitz

Am 17. Oktober 520 vor Christus empfängt der Prophet Haggai von Gott die Forderung nach Vergegenwärtigung des Geschehens beim Auszug der Juden aus Ägypten. Diesem unscheinbaren Vorgang, meint der Ägyptologe Jan Assmann, verdanken die drei Abrahamsreligionen ihr Dasein.

Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann ist auch für die Gebildeten unter den Religionsverächtern ein Begriff. Der berühmte Ägyptologe hat vor 20 Jahren eine Kritik des Eingottglaubens gewagt, die auf heftigen Widerstand stieß. Mittlerweile hat sich der Sturm unter den Fachleuten beruhigt, und Assmann hat ein Meisterwerk über den Auszug der Hebräer aus Ägypten verfasst, das auch Gottgläubige zur Kenntnis nehmen dürfen. Nicht zwischen Wahr und Falsch gilt es sich zu entscheiden, so Assmann im Vorwort, sondern zwischen Treue und Verrat in Bezug auf den Bund, den Gott mit den Kindern Israels schließt, die er aus der Knechtschaft befreit und als sein Volk erwählt hat. Das sei etwas völlig Neues in der damaligen Welt.

Eine „Revolution“, wie der Untertitel des gewichtigen Buchs suggeriert. Mir ist, betont der Autor, der diskontinuierliche, antagonistische, revolutionäre Aspekt der altisraelitischen und vor allem frühjüdischen Religion aufgegangen.

Nach diesem Trompetenstoß wäre eine Erwähnung des Philosophen Ernst Bloch(1885 bis 1977; „Atheismus im Christentum“,1968) zumindest im Namensregister tunlich gewesen, was Assmann vermieden hat. Mit Moses geschah ein Sprung im religiösen Bewusstsein, erkannte Bloch, und zwar durch Rebellion. Statt des fertigen Ziels erschien nun ein verheißenes, das erst erworben werden musste.

Als Marxist dachte Bloch prozessorientiert, das Künftige vor Augen. Assmann versteht sich als Kulturwissenschaftler, der zurückblickt, dorthin, wo die „Quellen“ sprudeln, auf beschriebenen Papyrusrollen oder steinernen Tafeln wie im Fall der Zehn Gebote.

Die beiden Rundbogenstelen in der Form ägyptischer Königsbefehle, auf denen sie demMoses von Gott überreicht wurden, seien als Urformen performativer Schriftlichkeit aufzufassen, laut Assmann. Dass sie im Original nirgendwo zu besichtigen sind, stört ihn kaum. Wer Bibelsprüche für Märchen hält, vernachlässigt die Nachhaltigkeit ihrer Wirkung. Deshalb hat Assmann eine Malerei von Marc Chagall als Illustration für die Übergabe der steinernen Tafeln an Moses ausgewählt. In meinen Augen, so Assmann, sind Begriffe wie Historizität, Fiktionalität, Literarizität im Zusammenhang mit Moses und den Erzählungen vom Auszug aus Ägypten unpassend.

Also zurück zu den „Quellen“. In ihnen wird mitgeteilt, der mit Donner und Blitz, Rauch, Feuer und Posaunenschall brüllende Herr Gott habe auf Sinai seinem Volk die Zehn Gebote so lautstark zur Kenntnis gebracht, dass die Leute in Todesfurcht gerieten.

Diese Art von Eindringlichkeit ist kaum zu toppen. Eine spektakuläre Zurschaustellung vulkanischer und meteorologischer Effekte hat auch Jack Miles („Gott – Eine Biografie“, Hanser Verlag, 1996) dem Exodus-Gott zuerkannt. Dass er Moses ermorden wollte, steht ebenfalls in der Bibel (Exodus 4, 24–26) und wird von Assmann auch kurz erwähnt.

Ein rätselhafter Zwischenfall

Die Episode passiert in einer Herberge auf der Sinai-Halbinsel. Moses ist mit Frau und Kind unterwegs. Herr Gott tritt auf und will Moses töten, worauf die Frau einen scharfen Stein nimmt, mit ihm die Vorhaut des Buben abschneidet und mit ihr das Mannesteil des Moses berührt, mit den Worten: Ein Blutbräutigam bist du mir! Damit ist Herr Gott besänftigt. Assmann: ein rätselhafter Zwischenfall, die Spur einer archaischen Legende. Akademische Lehrer überlassen das wilde Denken lieber der hemmungslosen Schriftstellerei und der blasphemischen Kunst.

Genieren muss sich Assmann deswegen nicht. Von ihm lässt sich lernen, wie Profis mit exemplarischen Texten verfahren, ehe sie zu soliden Resultaten gelangen. Unerlässlich dabei ist die geläufige Beherrschung der Originalsprache dessen, was inspiziert werden soll, ob es sich dabei um das Sanskrit handelt oder eben um das Hebräische der „Ersten Bibel“, wie Assmann sie gelegentlich nennt, weil sie vor dem christlichen Evangelium formuliert wurde.

Ferner ist ohne gründliches Studium all dessen, was sich im letzten Jahr, Jahrzehnt, Jahrhundert an Gelehrsamkeit zum Thema angesammelt hat, nicht weiterzukommen. Dokumentiert wird das im Literaturverzeichnis des Anhangs in Assmanns Werk, so wie es im Fach üblich ist.

Ebenso pflichtgemäß muss sich Jan Assmann methodologisch outen, wenn er in der Fachkonkurrenz bestehen will, bei den theologisch arbeitenden und konfessionell verankerten Kollegen der alttestamentlichen Professuren. Mein Zugang, so Assmann, ist der des kulturwissenschaftlichen Ägyptologen und mein methodischer Ansatz der einer „Sinngeschichte“.

Gemeint mit diesem Etikett ist ein verständlicher Vorgang aus der Tiefe der Zeiten, verbindlich bis in die Gegenwart. Assmann: Ich verstehe den Auszug aus Ägypten als Sinngebung, die mit den frühen Propheten anhebt und durch alle Wandlungen hindurch bis heute lebendig ist.

Der Verweis auf die frühen Propheten wirft den Blick in das achte Jahrhundert vor Christus, in die Zeit des ersten Tempels in Jerusalem, wo schriftkundige Priester, die mitdem neu erfundenen Alphabet vertraut waren, mündlich überliefertes Erzählgut zu Papier brachten. Assmann unterscheidet vier Stufen des Fortgangs vom Mythos zur Bibel, was die Lektüre entsprechend langwierig macht, leistet sich aber zum Schluss des ersten Teils seines Buchs eine überraschende Pointe. Der Zeitpunkt der Forderung nach Vergegenwärtigung des Auszugsgeschehens, postuliert Assmann, lässt sich genau bestimmen. Am 17.Oktober 520 vor Christus hörte der Prophet Haggai, was Herr Gott den Juden zu sagen hatte: „Das Wort, das ich mit euch vereinbart habe, als ihr aus Ägypten zogt, und mein Geist bleiben in eurer Mitte bestehen! Fürchtet euch nicht!“

Eine befreiungstheologische Botschaft, als Sinnzentrum der Exodus-Erzählung, findet Assmann. Eventuell könnte er sein Buch an den gegenwärtigen Papst schicken lassen, mit einem Lesezeichen an der richtigen Stelle.

Noch weitere Fragen? Voriges Jahr kam der Film „Exodus“ von Ridley Scott ins Kino, ein 150 Minuten langes Drama mit Christian Bale als Moses in der Hauptrolle, der mit seinem Schwert die Fluten des Roten Meeres zurückweichen lässt. Für Filmemacher sind derlei Effekte ein gefundenes Fressen, und dementsprechend oft wird das Publikum des Dramas mit wundersamen Ereignissen überrascht, die sich genau ans biblische Original halten, etwa bei der Darstellung des Ungemachs, das Herr Gott den Ägyptern schickt.

Was im Kino geht, ist für einen seriösen Gelehrten wie Assmann ein Problem. Es ist nicht auszuschließen, so Assmann im Kapitel über das Wunderthema, dass es tatsächlich einer Gruppe fliehender hebräischer Migranten gelungen sein mag, sich ihren Verfolgern durch eine glückliche Verkettung von Umständen zu entziehen.

Das wäre der reale Kern der Exodus-Erzählung. Dass diesem unscheinbaren Vorgang die drei Abrahamsreligionen der Juden, Christen und Muslime ihr Dasein verdanken, hat als kulturhistorische Tatsache zu gelten, derentwegen Assmann sein Buch verfasst hat. Der Exodus, das steht für Assmann fest, lässt sich nicht archäologisch verifizieren. Wie aber dann?

Indem, ohne Wunderseligkeit und eher nebenbei, ein wortloser Herr Gott diskret Erwähnung findet, in einer Szene der Begegnung des Propheten Elias mit Herrn Gott, die von Assmann diskutiert wird. Die Bemerkung im Buch Exodus, Moses habe sein Antlitz verhüllt, weil er sich fürchtete, Gott zu schauen, erinnert laut Assmann an die Beschreibung der Gottesbegegnung des Elias auf Sinai: Gott ging vorüber. Zuerst kam ein Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerschmetterte, aber Gott war nicht im Sturm. Nach ihm kam ein Erdbeben, aber Gott war nicht im Erdbeben. Nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber Gott war nicht darin. Und nach dem Feuer kam der Ton eines leisen Wehens. Als Elias das hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus zum Eingang der Höhle.

Gewalttätige Offenbarungen

Als exegetisch versierter Autor stellt Assmanndiese Theophanie gegen die gewalttätigen Offenbarungen im Buch Exodus und auch im Buch Genesis, die stets Furcht und Zittern zur Folge haben, nicht Freude. Letztere findet Assmann, als eine Art Echo, im sogenannten „Memorial“ des MathematikersBlaise Pascal, der 1654 ein religiöses Erlebnis auf einem Zettel notierte: „Gewissheit, Gewissheit, Freude, Friede. Gott Abrahams, nicht jener der Philosophen.“

Mit einer solchen Privatoffenbarung geraten wir allerdings unweigerlich zu Wittgensteins schroffer Maxime: „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Weltreligionen hingegen pflegen in der Regel wortreich zu sein.

Kurz fassen darf sich Assmann imSchlusskapitel, in dem er sich mit den Exodus-Geschichten als politische Mythologie befasst. Das Thema ist ohnehin vom Sozialphilosophen Michael Walzer beispielgebend bearbeitet worden („Exodus und Revolution“, 1995), als Wirkungsgeschichte des Auszugsgeschehens auf die Rhetorik der „glorreichen“ Revolution im England Oliver Cromwells und während des Unabhängigkeitskriegs in Nordamerika. Assmann: Die Exodus-Erzählung wurde zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn amerikanische Präsidenten wie George Washington, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln jeweils als zweiter Moses, Nelson Mandela als schwarzer Moses gefeiert wurden, dann ging es nicht um Auslegung, sondern um Arbeit am Mythos, um Weiterdenken in einem Prozess, der unabgeschlossen bleibt.

Damit entsteht ein Begriff von Religion, resümiert der 77-jährige Assmann im Hinblick auf eine globalisierte Welt, der als kritische Instanz den übrigen Wertsphären (Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst) gegenüberzustellen, ja ihnen überzuordnen sei.

Ob der Religionsbegriff Assmanns imKopf des Autors bleibt oder praktisch wird, womöglich in friedfertiger Weise, bleibt weiteren Flugversuchen der Sinngebung überlassen. ■

Jan Assmann

Exodus

Die Revolution der Alten Welt. 494S., 40Abb., geb., €30,80 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)

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