Ein Teil von jener Kraft

„Moralische Sauberkeit“ ist ein Geschäft,das Internet der scheinbare Garant von totaler Transparenz und Information „pur“. In seinem monumentalen fünften Roman, „Unschuld“, macht sich Jonathan Franzen auf die Suche nach einer neuen Moral: eine beeindruckende Studie.

Das englische „Purity“ würde man eigentlich mit „Reinheit“ ins Deutsche übersetzen, nicht mit „Unschuld“. Und doch lautet der Titel der deutschen Ausgabe von Jonathan Franzens fünftem Roman, einer über 800-seitigen literarischen Großtat, „Unschuld“. Wie schon die Vorgängerwerke porträtiert auch „Unschuld“ die gegenwärtige amerikanische Lebenswirklichkeit. War es zuletzt die Freiheit (2010), die Franzen thematisiert hat, ist das fundamentale Thema der westlichen Gesellschaft heute die Frage nach ethischer Reinheit, nach moralischer „Sauberkeit“ oder eben – mit einem stärker wertenden und religiös konnotierten Begriff: nach „Unschuld“. Franzen erweist sich damit wieder als kluger Zeitdiagnostiker: Die Frage danach, wie man handeln soll, um gut oder rein zu sein, ist relevanter denn je; „moralische Sauberkeit“ ist ein Geschäft, das dank der digitalen Revolution floriert. Whistleblower sind die neuen Helden, das Internet der scheinbare Garant für die totale Transparenz und Information „pur“.

In diesem Milieu von Whistleblowern, Occupy-Anhängern und Investigativjournalisten spielt der Roman. Purity Taylor ist Anfang 20 und unglücklich in ihrem Job (sie arbeitet im Online-Marketing einer Firma, die versucht, alternative Energielösungen zu verhökern), den sie aber nicht kündigen kann, weil sie das Geld dringend braucht, um ihren Studienkredit zurückzuzahlen. Sie lebt klassisch prekär am Existenzminimum in einem besetzten Haus in San Francisco und ist zu allem Überfluss noch unglücklich in ihren verheirateten Mitbewohner, Stephen, verliebt. Ihre Mutter lebt zurückgezogen in den Bergen und weigert sich beharrlich, ihrer Tochter – die sich Pip nennt (siehe Dickens' „Great Expectations“), weil ihr wahrer Name ihr zu peinlich ist – zu sagen, wer ihr Vater ist, obwohl Pip ihn zumindest als materiellen Unterstützer dringend nötig hätte.

Eines Tages taucht in Pips Wohngemeinschaft die deutsche Annagret auf, die Pip als Praktikantin für Andreas Wolf und sein Sunlight Project anwerben will. Wolf ist ähnlich berühmt wie Julian Assange, ein charismatischer Whistleblower, der, selbst aus privilegierten Kreisen der DDR stammend, 1989 im Zuge der Wende als Systemkritiker bekannt und später durch das Internet weltberühmt wurde. Von einem eigenen Camp in Bolivien aus versorgt Wolf die Welt mit einem kontinuierlichen Strom ungefilterter kleinerer und größerer Enthüllungen.

Der Köder, den Annagret benutzt, um Pip nach Bolivien zu locken, ist clever: Für Wolf arbeitet eine ganze Armada an Profihackern, die Pip bei der Suche nach ihrem Vater behilflich sein könnte. Doch Pip bleibt skeptisch, weil ihr die Penetranz, mit der Annagret um sie wirbt, verdächtig erscheint. Es braucht noch eine ganze Menge E-Mails und zwei sexuell-emotionale Männerkatastrophen, bis sie schließlich doch in ein Flugzeug nach Bolivien steigt. Doch Pips Abenteuer führt sie nicht nur nach Bolivien: Sie lernt auch Tom Aberant und dessen Denver Independent kennen, eine Online-Zeitung, die noch klassischen Investigativjournalismus betreibt, bevor Pip am Ende nach Kalifornien zurückkehrt – viel reicher an Wissen über ihre Herkunft und die menschliche Natur.

Mehr Details über die Handlung zu verraten wäre dem Lesevergnügen abträglich, denn „Unschuld“ ist – trotz des Umfangs und gedanklichen Gehalts – zunächst einmal ein spannend zu lesendes Buch, in dem sich auch erstaunlich viel Sex and Crime findet, was angesichts des Themas aber auch wieder nicht verwundert. Bremsend wirken zuweilen nur die langen Ausflüge in die Vergangenheit, die Franzen unternimmt.

Im Grunde werden im Roman gleich mehrere Leben verschiedener Charaktere fast vollständig aufgerollt – Andreas Wolfs Werdegang in der DDR und seine Beziehung zu Annagret, Tom Aberants Adoleszenz samt äußerst schwieriger Ehe mit der steinreichen Anabel, die Geschichten der Eltern, vor allem die der Mütter –, sodass die erzählte Zeit des Romans von den Fünfzigerjahren des 20.Jahrhunderts bis ins Jahr 2013 reicht.

Der wesentliche Unterschied zu Franzens früheren Romanen ist eine noch stärkere Konzentration auf die Figuren. Nicht die Handlung steht im Vordergrund, sondern die feine psychologische Zeichnung der Charaktere, die – auch das ist ein Novum – diesmal weniger Durchschnittsmenschen als vielmehr extreme Persönlichkeiten repräsentieren. Das hat mit der Gesamtkonstruktion des Romans zu tun. „Unschuld“ ist eine dialektische Darstellung jener „Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“,so das faustische Motto, das Franzen dem Roman voranstellt. So betrachtet, wird das große Gewicht, das Franzen den Vergangenheitserzählungen rund um Wolf und Aberant beimisst, verständlicher: Die beiden zurückliegenden Erzählstränge fungieren als moralische These und Antithese für die Argumentation. Wolf und Anabel, Aberants Frau, sind klar antipodisch angelegt: Wolf entpuppt sichals völlig amoralisch, bewirkt aber erstaunlich viel Gutes, während Anabel der Übermoral in Person gleicht, damit aber Aberant das Eheleben zur Hölle macht.

Aus beiden Polen, die durch Franzens meisterhafte psychologische Zeichnung trotz der extremen Zuspitzung niemals wie bloße Stereotypen wirken, könnte sich jetzt, in der Gegenwart, etwas Neues ergeben – eine Art „moralischer Pragmatismus“ als Synthese. Dafür steht Pip, die – gerade im Kontrast zu den übrigen „extremen“ Figuren – umso vernünftiger und sympathischer wirkt, aber als Figur leider weniger Raum beanspruchen darf als etwa Wolf. Wenn man etwas kritisieren wollte an „Unschuld“, dann, dass das Gewicht der Vergangenheit die Gegenwartsebene fast erdrückt. Abgesehen davon ist „Unschuld“ eine beeindruckende Studie über die ewige Frage, was es heißt, „gut“ zu sein – meisterhaft konzipiert und ganz und gar souverän erzählt. ■

Jonathan Franzen

Unschuld

Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. 832S., geb., €27,80 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2015)

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