In Zeiten geringer Zuversicht

Die Wissenschaftlerin und der Metallarbeiter: Lebensberichte zweier Glücksucher aus Wien.

Manchmal geht einem Hanna Behrend mit ihrer Art, penibel Ausflugsziele, Autopannen, Familienfeiern, Jugendweihen, Katzenkrankheiten und vieles mehr aufzulisten, gehörig auf die Nerven. Da möchte man das Buch in die Ecke pfeffern, was sich nicht empfiehlt, schließlich ist es etliche 800 Seitenstark, wiegt anderthalb Kilo und hat einen schädeldicken, kantigen Einband, der einigen Schaden anrichten könnte. Außerdem erweist sich Behrends Unfähigkeit, das umfangreiche biografische Material literarisch zu bündeln, geradezu als Vorteil – es hilft der Erinnerung auf die Sprünge und betont den Werkstattcharakter dieser unabgeschlossenen Lebensbeschreibung, die Behrend in fünf Abschnitte teilt, auch wenn sie dann chronologisch immer wieder vor- und zurückhüpft. Aber Sprunghaftigkeit und Trubel gehören ja zur Dramatik ihrer 86 Jahre.

Im Epilog behauptet sie, „Die Überleberin“ nicht so sehr für andere geschrieben zu haben, sondern um Klarheit zu gewinnen, über sich und über die gesellschaftlichen Verhältnisse, an denen sie innig Anteil genommen hat, als Schülerin in Wien, als Vertriebene in Paris, als Exilantin, die das Exil als Verheißung wahrgenommen hat, in Manchester und London, als gleichermaßen loyale wie kritische Sozialistin in Ostberlin, wo sie heute noch lebt, ohne Erwartung, doch noch eine hoffnungsvolle Zeitenwende zu erleben, aber auch ohne Verbitterung, als dem hochnäsigen Westfeminismus unerwünschte Feministin, als Historikerin der revolutionären Bauernaufstände, als Literaturwissenschaftlerin, der Literatur immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Erfahrung gewesen ist.

Auffallend, wie uneitel da jemand sich selbst auf der Spur ist, wie diese Jemand nie der Versuchung erliegt, eigenes Verhalten zu beschönigen, andererseits auch nicht Abbitte leistet (wofür auch?, für die vorwitzige Sehnsucht nach Kommunismus?), wie sie tief ins Private eindringt, in Sexualität, Krankheit,Streit, die glanzlosen Seiten des Alltags bespricht, die wir mit ihr teilen, aber kaum je bereden und schon gar nicht der Öffentlichkeit überantworten, weil sie jeglicher Transzendenz entbehren.

„Die Überleberin“ ist also in jeder Hinsicht ein gewichtiges Werk, dessen Titel und Untertitel – „Jahrzehnte in Atlantis“, das heißt im Realsozialismus, der sich als Versuchsstation erwies – ihrer Bedeutung nicht ganz gerecht werden; „Die Glücksucherin“ würde ihm eher entsprechen. Es ist kein Widerspruch, dass das Wort Glück bei Hanna Behrend selten vorkommt, erst auf den letzten Seiten häuft es sich, im Nachdenken über die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft der Verfasserin mit ihrem vor drei Jahren verstorbenen zweiten Mann, dem Historiker Manfred Behrend. Andererseits, dort spricht sie auch von ihrer Lebensfreude – und davon, dass sie diese schon als Kind in Wien verspürt hatte. „Weder der Tod des Vaters noch die Auseinandersetzungen mit der Mutter, auch nicht der Verlust der Heimat vergällten mir dauerhaft die Lust am Leben. Mein zweites Leben in der Emigration in Frankreich und England lehrte mich, Gefahren zu erkennen und zu fürchten und mit Einsamkeit, Heimweh und Verzweiflung umzugehen. Der Selbstaufgabe und -zerstörung kam ich am nächsten während meines ersten Jahrzehnts in Deutschland. Da erlebte ich, was es heißt, sein ganzes Leben infrage zu stellen. Aber selbst auf dem Tiefpunkt meiner Demoralisierung, als ich durch das erbärmliche Ende meiner ersten Ehe in meinem Selbstbild schwer beschädigt war, wollte ich nie aufgeben. Immer glaubte ich, es müsste doch noch etwas anderes kommen.“

So weist die vorläufige Bilanz dieser ungemein lebendigen und (für kleinbürgerliche Gemüter) bis zur Peinlichkeit aufrichtigen Frau zurück in ihre erste Jugend, als sie, 16- jährig, in ihr Tagebuch notiert hatte: „Etwas Merkwürdiges ist passiert: Als ich aus der Stadt zurückkam, fühlte ich, dass ich unverzüglich etwas schreiben müsse... Was? Das Nächstliegende. Die interessanten Fälle um mich herum beschreiben.“

Das tut sie auch, ausführlich und schlampig zugleich, mit zahlreichen Wiederholungen, die der Leser anfangs der Autorin, mehr noch der überforderten oder geistesabwesenden Lektorin anlasten möchte, ehe er erkennt, dass ein Sachverhalt, mehrmals mitgeteilt, in diesem vielschichtigen Werk letztlich die Lektüre erleichtert, bei Hunderten erinnerten Schicksalen, Begegnungen, Unternehmungen.

Was rührt so stark an der Selbstdarstellungdieser Frau, dass man nicht loskommt von ihr, nicht loskommen möchte? Vor allem der bereits zitierte Lebensmut – nie aufzugeben, die eigene Mitte zu finden trotz persönlicher, familiärer, gesellschaftlicher Zerrissenheit. In ungemein prekären Lagen sich durchzuboxen, niedrige Tätigkeiten zu verrichten, Hoffnungen zu hegen, bis diese sich endlich materialisieren oder als Illusionen erweisen, Enttäuschungen – private, berufliche, politische – zu überwinden, in Chaos und Krise die kleinen Dinge des Lebens hochzuhalten, sogar den vielen Hunden, Katzen und was da sonst noch alles die Wohnung von Familie Behrend bevölkert hat, ein treues Andenken zu bewahren. Ihr Kampfgeist. Ihre Selbstkritik. Ihre Begeisterungsfähigkeit. Ihr Streben nach Gemeinschaftlichkeit. Und natürlich die Leidenschaft für Politik, das Geständnis: „Ich bin, was ich bin, durch meine unlösbare Verknüpfung mit diesem Land“, der DDR, wo „die bornierte ,realsozialistische‘ Praxis ihren utopischen Potenzen“ näher gekommen sei als irgendwo sonst und „sie doch mit so weitreichenden Folgen“ verfehlt habe.

Vielleicht ist es also wirklich der eigentliche Anspruch der Autorin, die „Atlantis“ beschiedenen Jahrzehnte aus der Perspektive einer „Westemigrantin“ zu ergründen, wobeisie zahlreiche Mythen anhand der eigenen Erfahrung als ideologische Konstrukte entlarvt. Und sie verweist auf die weiterhin vorherrschende Unfähigkeit, „zwischen den repressiven Strukturen der DDR und ihren sozialen Errungenschaften zu unterscheiden“. Aber es wurde ja, von kapitalistischer Seite, ein propagandistischer Seuchengürtel gelegt, mittels dessen sich mit dem halbfalsch praktizierten auch der anstehende, vorstellbare, erhoffte Sozialismus abwickeln ließ, der störende Traum von einer Gesellschaft, den Hanna und Manfred in ihrer forschenden und publizistischen Tätigkeit, sich darin verwirklichend, verwandelnd, bereichernd, vorweggenommen hatten. „Auch in Zeiten geringer Zuversicht lebten wir, als wären wir ge-wiss, dass sich jeder Beitrag zur Aufklärung und zur Vernunft, jede Warnung und jede Kritik lohne.“ Ach, dieses aus der Mode gekommene, wenngleich zu jeder Zeit minoritäre Bemühen zugunsten einer abwesenden, bloß simulierten Massenbewegung, als könnten wir schon allein was bewirken, als käme es auf einen oder zwei von uns an, als ließe sich das große Ziel im kleinen, die kollektive Erhebung im individuellen Beben wecken. Selbsttäuschung? Wenn schon! „Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft“ hieß, folgerichtig, eine Schriftenreihe, die Hanna Behrend von 1995 bis 2005 herausgegeben hat. Ohne solche Quijoterien kann man sich gleich in die Klapsmühlen des auf Krieg gepolten Kapitalismus begeben.

Wie Hanna Behrend ist auch Walter Stern als Jude aus seiner Geburtsstadt Wien vertrieben worden und hat im Exil (diesfalls Palästina) sein politisches Bewusstsein geschärft: Ein Aufsatz Ernst Fischers in der Zeitschrift „Internationale Literatur“, die ihm in einem Kibbuz in die Hände fiel, habe „wesentlich dazu beigetragen, dass ich Kommunist geworden bin“. Zu dieser politischen Wendung passt, auch wenn sie damit in keinem Zusammenhang steht, eine kleine Episode, von der Stern während der vergeblichen Suche nach seiner Mutter (die wie der Vater von den Nazis ermordet wurde) erfahren hat: Die Mutter eines Mädchens aus seiner zionistischen Jugendgruppe hatte überlebt, weil sie vom Kutscher eines Lieferwagens – in Wien, 1942 – von der Straße weg mitgenommen worden war. In seiner Wohnung versteckt, erlebte sie die Befreiung. „Ich habe 1945 diese Wohnung gesehen. Es war eine typische Zimmer-Küche-Wohnung, die Küche lag am Gang. Ich habe den Mann kennengelernt. Er war Kommunist und das, was man oft so schlechthin als einfachen Arbeiter bezeichnet, und hatte so gar nicht das Aussehen eines Helden. Aber er riskierte sein Leben, um einer Frau zu helfen, die er vorher noch nie gesehen hatte. Ich habe leider seinen Namen vergessen.“ Die politische Zugehörigkeit des Retters darf nicht unterschlagen werden. Auch Behrend würdigt bei aller Kritik an der „linken Alphagarnitur“ die „kompromisslos antifaschistische Haltung, die dazu führte, dass sich große Teile vor allem der jungen Emigranten in den kommunistisch geführten Organisationen geborgen fühlten“. Und wenn man Walter Sterns ohnehin bis zur Selbstverleugnung bescheidenen Bericht über seine jahrelange Tätigkeit als Betriebsratsobmann der Firma Goerz liest, würgt einen das Unrecht, das Kommunisten bis zum heutigen Tag angetan wird.

Stern hatte sich im Office of Strategic Service, einer Aufklärereinheit innerhalb der US-Armee, zum Partisanenkampf ausbilden lassen, kam aber nicht mehr zum Einsatz. Nach Kriegsende ermittelte er gegen nazideutsche Kriegsverbrecher, wurde Funktionär der Freien Österreichischen Jugend und begann nach einer Ausbildung zum Werkzeugmacher bei der Firma Goerz – elektrische und optische Geräte – zu arbeiten, wo er 1984 in den Ruhestand trat. Den größeren Teil seiner Erinnerungen hat er der Firmenchronik, vor und während seiner Tätigkeit, eingeräumt – ein Glücksfall, weil wir dadurch ein genaues Bild über die wechselvolle Geschichte eines österreichischen Unternehmens von innen und von unten, also nicht aus sozialpartnerschaftlich verzerrter Sicht, erhalten. Wie Behrend übt Stern in der Beschreibung von Weggefährten und Kontrahenten keine Selbstzensur, ist aber im Gegensatz zu ihr zurückhaltend in dem, was er als „mein Privatleben“ ansieht. 1968, im Gefolge der „Normalisierung“ nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die ČSSR, brach er mit der KPÖ und gehörte zu jenen Reformkommunisten, die die Gewerkschaftliche Einheit als linke und nunmehr einzige unabhängige Fraktion weiterführten. Später geriet sie, was heute zu bedauern ist, in ein Naheverhältnis zur grünen Partei.

Auch Walter Stern hebt im Titel seiner Erinnerungen das Überleben hervor. Das Besondere ist aber, was dieser klare, zähe Mensch aus seinem Leben gemacht hat. Wie er es fertiggebracht hat, sich das Motto einer Zeitung, das ihm schon als Kind imponiert hat, zu eigen zu machen: „Wo es Stärkere gibt, aufseiten der Schwächeren.“ Seine Frau und er, schreibt er, hätten sich bemüht, diese Lebenseinstellung an ihre Kinder weiterzugeben. „Nach all den Misserfolgen in der Politik sind wir wenigstens in dieser Hinsicht erfolgreich gewesen. Beide wissen, dassReichtum und Karriere nicht das Wichtigste im Leben sind. Wenn ich die vielen engagierten jungen Menschen beobachte, dann bin ich voller Hoffnung für die Zukunft.“ Für die Zukunft, die – Hanna Behrend zufolge – verloren ist. Aber nach der wir suchen, dabei von der einen wie vom andern gestärkt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2009)

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