Die Macht der Dossiers

„Nullnummer“ beginnt wie ein Kriminalroman. Doch Umberto Ecos Abrechnung mit der Ära Berlusconi ist eine Satire auf die Medienwelt. Leider ohne Biss.

Umberto Eco ist ein hochverdienter Wissenschaftler, ein geistreicher Essayist und nimmermüder Berlusconi-Gegner. Als Romancier hat er einige große historische Romane auf seinem Konto. „Nullnummer“ ist nun ein vergleichsweise kleiner Roman, in Anspruch und Umsetzung eher ein sehr kleiner. Eine Satire auf die Medienwelt, darauf, wie eine Zeitung eigentlich nicht gemacht werden sollte, und darauf, wie Journalisten ticken, die zu feig sind, sich mit den Mächtigen im Hintergrund anzulegen. Eine Satire auf die Medienwelt, bei der man bis zum Schluss den richtigen Biss vermisst.

„Nullnummer“ beginnt wie ein Kriminalroman: Wir schreiben den 6. Juni 1992 und der Erzähler Colonna bemerkt, dass jemand in seiner Wohnung war. Verängstigt beginnt er nun die vergangenen Monate seines beruflichen Neuanfangs zu rekapitulieren. Colonna (Deutsch: die Säule), ein Mann in den besten Jahren, hat eine wenig erfolgreiche Berufslaufbahn hinter sich: Als Studienabbrecher kompensierte er sein akademisches Scheitern aber durch überdurchschnittliche Wissensanstrengungen, denn: „Je mehr einer weiß, desto mehr sind die Dinge bei ihm nicht zum Besten gelaufen.“

Mit ein paar anderen ebenso prekär Erfolgreichen heuert er zu Beginn des Jahres bei einem obskuren Zeitungsprojekt an, hinter dem ein Commendatore Vimercate steht, den man unschwer als den kommenden Mann der italienischen Politik, Silvio Berlusconi, identifizieren kann. Vimercate besitzt Hotels, lokale TV-Stationen und ein Medien-imperium. Das Zeitungsprojekt soll ihm nun Zugang zur besseren Gesellschaft öffnen. Colonna bekommt eine zusätzliche Spezialaufgabe: Als Direktionsassistent und Ghostwriter soll er für seinen Chef Simei das Projekt dokumentieren. Schließlich will dieser mit neuen Informationen irgendwann sein eigenes großes Geld machen. Zudem soll Colonna garantieren, dass die Kollegen sprachlich nicht zu weit von den üblichen geringen Standards abweichen.

Das Neue an „Domani“ geht weit über die üblichen Aufgaben einer Tageszeitung hinaus: „Wir werden das behandeln, was morgen geschehen könnte, in Hintergrundartikeln, Beilagen zu besonderen Themen, überraschenden Vorwegnahmen.“ Passiert etwa ein Attentat, wird „Domani“ auf alle Fälle und unabhängig vom Ermittlungsstand der Behörden einen Täter präsentieren und dazu Mutmaßungen, wie sich die Dinge entwickelt haben und entwickeln werden. Besonders begabt in dieser Richtung zeigt sich bald Kollege Braggadocio (Deutsch: Prahlhans), ein Enthüllungsreporter, der nur noch an den Komplotten und Verschwörungen unter den Oberflächen der „Demoplutojudäokratie“ interessiert ist.

1992 ist das historische Wendejahr der italienischen Geschichte: Dank der Tangentopoli-Enthüllungen stürzt das alte System der Christdemokraten, und ein paar Monate lang scheint es tatsächlich so, als wäre ein neues Italien möglich, ehe die Bomben der Mafia allen schönen Hoffnungen ein Ende setzen – und es kommt schließlich die Medienherrschaft des Silvio Berlusconi, der die alten Zustände bestens in die neuen Zeiten transferiert. In diesen historischen Monaten produzieren Colonna und seine Kollegen Nullnummern ihrer neuen Zeitung.

Diese Arbeit ist wenig aufregend und Eco nutzt sie, um fast sämtliche Methoden einer Boulevardzeitung leicht satirisch überhöht darzustellen: Wie verhindert man eine wirkliche Trennung von Tatsachen und Meinungen? Wie fördert man den alltäglichen Rassismus? („Kalabresischer Arbeiter“ und nicht „Mann aus Mantua“). Wie übt man Einfluss aus? „Die Leute wissen zuerst nicht, was sie wollen, dann sagen wir's ihnen, und sie merken, dass sie es längst gewollt haben.“ Wie formuliert man eine Richtigstellung richtig? Wozu soll man Buchrezensionen verfassen lassen, wenn man auf der Buch- und Spektakelseite auch Interviews mit Autoren bringen kann, die über ihr Buch eher Positives zu sagen haben? Wozu die Wahrheit, wenn es Horoskope gibt?

Und: Was ist eigentlich Sinn und Zweck des öffentlichen Um-Entschuldigung-Bittens? Warum bittet der Papst Galilei um Entschuldigung? Was Simei aber unbedingt braucht, sind penibel recherchierte Dossiers über alle mehr oder weniger Prominenten – man weiß nie, wann man es brauchen kann. Gerade in diesen satirisch-essayistischen Passagen stellt sich die Frage, warum Eco für all diese schönen Erkenntnisse die Romanform braucht. Mehr als eine Passage liest sich wie eine seiner Kolumnen für das Magazin „L'Espresso“, die auf Deutsch etwa in „Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß“ publiziert worden sind.

Nicht ganz ohne Grund gedeiht in Italien die Dietrologia, die Kunst des Dahinterblickens, oder besser gesagt: der Verschwörungstheorien. Braggadocio ist dann derjenige, der eine wirkliche Sensation an der Hand hat: Benito Mussolini sei 1945 gar nicht erschossen worden, sondern ein Doppelgänger. Der echte sei (naturgemäß mithilfe des Vatikans) nach Argentinien gebracht worden und habe auf einen günstigen Zeitpunkt gewartet, wieder die Macht in Italien zu ergreifen. Die Alliierten hätten ja gleich nach dem Krieg dafür gesorgt, dass schlagkräftige paramilitärische Strukturen (wie die CIA-finanzierte Gladio) vorhanden wären, sollten die Kommunisten an die Macht kommen. Am 7./8. Dezember 1970 war von dem Ex-Faschisten Junio Valerio Borghese, Chef der Fronte Nazionale, dann tatsächlich ein Putsch vorbereitet worden, der kurz vor dem Losschlagen etwas überraschend abgeblasen wurde. Laut Braggadocio, weil Mussolini in der Nacht davor durch die Anreisestrapazen verstorben war!

So bekommt der vermeintliche Kriminalroman am Ende doch noch seinen Toten: Braggadocio wird umgebracht. Hatte der Mythomane also doch recht? Für „Domani“ bedeutet es das Aus. Ein Verdacht aber bleibt bestehen: Hat Vimercate „Domani“ nur betrieben, um Material zur Erpressung der Mächtigen zu sammeln? Colonnas Angst schwindet erst, als wenig später im Fernsehen eine BBC-Dokumentation von Corrado Augias, „Operation Gladio“, gezeigt wird: Es stellt sich heraus, dass Braggadocio in allem recht hatte, ja, dass die Realität noch schlimmer ist. Die Tatsachen sind jetzt öffentlich – aber niemand nimmt sie mehr ernst, weil alle eh schon immer alles gewusst haben. Italien ist bereit für Berlusconi und seine Medien. In Colonnas Worten: „Wenn es erst einmal richtig Dritte Welt geworden ist, wird unser Land rundum lebenswert sein.“ ■

Umberto Eco

Nullnummer

Roman. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. 230 S., geb., € 22,60 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

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