Sich selbst verraten

Jan Koneffke erzählt in seinem Roman „Ein Sonntagskind“ die Geschichte eines deutschen Burschen, der 1944 einberufen wird. Um seine große Angst zu überspielen, wird er zum Nazi-Helden – und später zum marxistischen Philosophen.

In drei Romanen, die den Bogen vom Ende des 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert schlagen, hat Jan Koneffke die Geschichte der Familie Kannmacher ausgebreitet. Sie stammtaus Pommern, dem 1945 verlorenen deutschen Osten, findet sich später in Schleswig-Holstein wieder und verzweigt sich darauf in alle Richtungen. Felix, den Helden aus dem Schelmenroman „Die sieben Leben des Felix Kannmacher“ von 2011, führt seine antinazistische Haltung schon in den 1930er-Jahren nach Bukarest, wo er sich unter vielen Namen und in abenteuerlichen Berufen durchschlägt.

Sein Neffe Konrad, der Protagonist des neuen Romans, der trotz des auf ihn gemünzten Titels „Ein Sonntagskind“ kein einnehmender Charakter ist, wird sich im Deutschland des Wiederaufbaus in Heidelberg, Frankfurt, Berlin umtun und vom einstigen Landser zum bekannten marxistischen Philosophen werden. In dieser Familie sind alle vertreten, die sturschädeligen Provinzler und die Freigeister, die Pazifisten und die unbelehrbaren Nationalsozialisten.

Was sie alle eint, über die Generationen, Lebensorte, Berufe hinaus, das ist Immanuel Kant. Der Urgroßvater, dessen Welt der erste Band der Trilogie, „Eine nie vergessene Geschichte“ von 2008, gewidmet war, nahm dessen Philosophie als Ermächtigung, Moral und Misanthropie zu vereinen, ein gestrenger Schulmeister, der die Kinder nicht mochte, denen er einen spezifisch preußischen Protestantismus als Religion der Pflicht eintrichterte. Für seinen Sohn wurde Kant hingegen zur Instanz, die ihn davor schützte, dem Nationalsozialismus zu verfallen. Und Konrad wird seine akademische Laufbahn mit Studien begründen, die die Kant'sche Ethik ins Marxistische zu wenden versuchen.

Der Roman setzt 1944 ein: „Gegen Ende November begann Konrad Kannmachers Krieg, knapp sechs Monate vor dem Zusammenbruch. Zu diesem Zeitpunkt war er 17 Jahre, ein versponnener Bursche und schlaksiger Lulatsch, der im Feld seine Angst nicht bezwingen konnte.“ Gerade weil er ihrer nicht Herr wird und nichts so sehr fürchtet, als vor seinen Kameraden als Feigling dazustehen, wird er ein furchtbarer Soldat, der sich stets für Aufträge meldet, die besondere Gemütskälte erfordern. Ein erster polnischer Partisan ist bald zur Strecke gebracht, viele andere folgen, und wenige Tage vor Kriegsende hetzt Konrad noch einem desertierenden Kameraden hinterher, der schließlich gestellt und standrechtlich erschossen wird.

Seinen Freund Hartmut, der die kalte Unerschrockenheit hatte, die er immer selbst auszustrahlen wünschte, ließ er hingegen sterbend allein auf dem Feld zurück. Konrad ist „steinalt“, als der Krieg zu Ende ist, und er wird, was er in den sechs Monaten erlebt, gesehen, getan hat, nie verwinden. Er wird es zu vergessen versuchen, aber was immer er unternimmt, privat, beruflich, politisch, es hat mit der Schuld zu tun, die er auf sich geladen hat.

Konrad ist in jenem Jahr 1927 geboren, das neuerdings fast schon zum Begriff für eine ganze Generation geworden ist. Im deutschen Feuilleton firmieren die abertausenden Flakhelfer, die als Jugendliche in den Krieg zogen, inzwischen als die sogenannten 1927er. Es ist nicht erstaunlich, dass viele jener Intellektuellen, die ihren Landsleuten ab den Fünfzigerjahren die Leviten lasen, auf nationale Selbstkritik setzten und im internationalen Maßstab das „gute Deutschland“ repräsentierten, dieser Generation entstammten. Nein, bemerkenswert ist vielmehr, wie viele von ihnen darüber ihre eigene Vergangenheit vergaßen und erst in hohem Alter von Forschern der übernächsten Generation mit ihrer Mitgliedschaft bei der NSDAP oder der Waffen-SS konfrontiert wurden: von Walter Jens über Niklas Luhmann bis zu Günter Grass.

Und nur nicht als Angsthase gelten

Auch beim Sonntagskind Konrad liegen Läuterung und Selbstverleugnung nahe beieinander. Er setzt sich glaubwürdig für die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik ein, achtet zugleich aber darauf, nur ja nie nach seiner eigenen Verstrickung befragt zu werden. Die Angst, die den Jugendlichen antrieb, nämlich als Angsthase unter lauter tapferen Burschen zu gelten, quält auch den Studenten, den Volksschullehrer, den honorigen Professor, ja, den Greis.

Immer glaubt er, irgendjemand käme ihm hinter irgendein Geheimnis: Dass die akademischen Kollegen und Studenten erkennen, was für ein mittelmäßiger Kopf er ist; dass ihn die Genossen von 1968 als Zauderer durchschauen; dass man ihn für spießig statt libertär, für karrierebewusst statt oppositionell halten könnte. Die Urszene, die ihn sein Leben lang misstrauisch, vorsichtig, berechnend bleiben und in seinen Beziehungen scheitern lässt, findet sich in jenen Monaten des Krieges, als er Menschen getötet, denunziert, verraten hat.

Der perspektivische Fluchtpunkt des Romans liegt in der Gegenwart. Der Erzähler namens Lukas, der 1961 geborene Sohn von Konrad, findet in dessen Nachlass mit Schandtaten prahlende Briefe aus dem Krieg, in denen er den grüblerischen Vater nicht zu erkennen vermag; ebenso wenig wie in den von schnoddriger Gewaltverherrlichung nur so strotzenden Aufzeichnungen des Jünglings, die ihm zugespielt werden: „Das waren zwei Personen, die nichts miteinander zu tun hatten.“ Es ist die selbst gestellte Aufgabe des Sohnes, aus Zeugnissen, Dokumenten, Erinnerungen ein Bildnis des Vaters zu erschaffen, auf dem dieser, doppelgesichtig, doch als eine einzige Person sichtbar werde. Und da die Dokumente nicht ausreichen, zaudert der Sohn nicht, sich den Vater in vielen erzählerischen Anläufen gewissermaßen neu zu erfinden. Das Ergebnis ist dieser Roman des 1960 geborenen Jan Koneffke, dessen 2008 verstorbener Vater Gernot ein einflussreicher linksliberaler Bildungstheoretiker war und die Geheimnisse seiner Jugend mit ins Grab nahm; das polnische Wort Konefka bedeutet übrigens so viel wie Kanne.

Im Galopp führt Koneffke seinen Konrad Kannmacher durch die deutsche Nachkriegsgeschichte. Da fehlen wenige Stichworte, die einem dazu einfallen mögen, vom Bau bis zum Fall der deutschen Mauer, von der RAF zur Stasi. Das Buch ist klug komponiert und geradezu verschwenderisch reich mit einprägsamen Nebenfiguren ausgestattet. Ein wenig unglaubwürdig muten die schriftlichen Selbstzeugnisse des jungen Konrad an, die einem vom Nazismus besessenen Jüngling stilistisch und intellektuell nicht unbedingt zuzutrauen sind.

Der einfallsreiche Fabulierer Koneffke schaltet der privaten Geschichte dieses einen Mannes die öffentliche, politische und soziale der Bundesrepublik Deutschland gewissermaßen parallel. Das ist auch richtig so, denn Konrad ist beides: Außenseiter und Repräsentant deutscher Geschichte. ■


Am 12. Oktober um 20 Uhr stellt Jan
Koneffke sein Buch in der Wiener Alten Schmiede, Schönlaterngasse 9, vor.

Jan Koneffke

Ein Sonntagskind

Roman. 572 S., geb., € 25,70 (Galiani Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

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