Die eigene, fremde Historie

Istanbul
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Vertreibung, Pogrome, Militärputsche, Straßenschlachten, Frauenemanzipation, Auswanderung, Einwanderung, Religion und der Staatsgründer – all diese Themen hängen unverbunden über der türkischen Republik. Eine Bücherschau.

Wagen wir eine These: Noch nie in der Geschichte der Republik seit 1923 hat die Türkei von der Weltöffentlichkeit derart viel Aufmerksamkeit, Bedeutung, Kritik, Anfeindung, Bewunderung und Solidarität erhalten. Das Land zwischen Bosporus und Ararat war im Westen bis vor einigen Jahren unter der Wahrnehmungsschwelle, bestenfalls bekannt als Urlaubsort, als Hybridwesen zwischen Islam und Laizismus, als unterentwickelte Region, als Land der politischen Anarchie, als Land, das seine gebündelte Arbeitskraft ab den 1960er-Jahren in den Westen ziehen ließ (geflügeltes Wort: „Nichts in der Türkei ist so stabil wie die innenpolitische Instabilität“). Und jetzt? Die Türkei stellt ihre Alltagsprodukte in Eigenmarke selbst her, frisiert das ländliche Anatolien mit neuen Straßen und Flughäfen auf, wird zum kapitalistischen Musterschüler und ist drauf und dran, das laizistische Staatsbild in den Wind zu schießen.

Die Gezi-Proteste stellen im Rückblick einen öffentlichen Wendepunkt dar. Spätestens dann, fast plötzlich ist im Westen die Frage aufgetaucht: Was passiert da drüben? Das steigende Interesse an der Türkei spiegelt sich nicht zuletzt durch eine Reihe von Buchveröffentlichungen über die soziale und politische Lage im Land wider. Vergangenes Jahr hat der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel mit dem Reportageband „Taksim ist überall“ (Edition Nautilius) den Gezi-Geist aufgegriffen, nun sind es die deutsch-türkische Journalistin Cigdem Akyol („Generation Erdoğan“) sowie die populäre türkische Schriftstellerin und Journalistin Ece Temelkuran („Euphorie und Wehmut“), die mit ihren Neuerscheinungen dieses große Land mit all seinen Widersprüchen fassen möchten. Akyol hält ihr Buch vor allem an die Person Recep Tayyip Erdoğan, auf dessen Konto das gewandelte Türkei-Bild ohne Zweifel geht. Temelkuran, die durch ihre kritische journalistische Arbeit und ihr Interesse an der armenischen Frage ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Land hat, bietet einen persönlichen Blick und wühlt vor allem tief in der türkischen Seele herum.

Was beide Autorinnen betonen, und was bei der Debatte rund um Erdoğan und Gezi oft verzerrt dargestellt wird: Nicht erst seit gestern ist die Türkei ein tief gespaltenes Land. Mit der Gründung der Republik, schreibt Akyol, wurde die Gesellschaft zweigeteilt in „,weiße Türken‘ – die Kemalisten, die säkulare Mittel- und Oberschicht – und ,schwarze Türken‘, die anatolische Peripherie. Eine Spaltung, von der Erdoğan später profitieren sollte.“ Dieser Bruch ging mit der viel zitierten, äußerst schnellen und staatlich verordneten Modernisierung durch Mustafa Kemal Atatürk einher (M. Şükrü Hanioğlus Biografie „Atatürk. Visionär einer modernen Türkei“ ist auf Deutsch im Theiss-Verlag erschienen). Bei all der Anerkennung, die Atatürk verdient, weil er sein Land nicht in der Rückständigkeit wissen wollte, wurde und wird ein bedeutsamer Aspekt gern vernachlässigt: das kollektive Trauma einer postmonarchistischen Gesellschaft, die von einem Tag auf den anderen von der eigenen Geschichte abgeschnitten wurde. Kann es da verwundern, dass Erdoğans Rückbesinnung auf die osmanische Zeit so gut ankommt?

Alle Namen der Sultane habe sie in der Schule auswendig lernen müssen, schreibt Temelkuran, und dennoch wurde den Schülern diese Zeit als rückständig und missglückt vermittelt. Ambivalenz der eigenen Geschichte gegenüber – genau das stellt das Dilemma der modernen Türkei dar. Ein öffentliches, historisch-kritisches Aufarbeiten der Nationwerdung, das mit einem gesellschaftlichen Konsens geendet hat – nach diesem Moment wird man vergeblich suchen. Die Vertreibung der Minderheiten, die Militärputsche, die blutigen Straßenschlachten zwischen Linken und Rechten in den 1970er- und 1980er-Jahren, die ausgewanderten Staatsbürger, der Kampf der Frauen nach Gleichberechtigung, die Kurdenfrage, der Umgang mit Religion – all diese Teile der türkischen Geschichte und Identität hängen zusammenhanglos über der Republik in einem luftleeren Raum. Das Interessante ist ja, dass neuerdings die immer stärker werdende Zivilgesellschaft die Aufarbeitung selbst in die Hand nimmt.

Das Moment der Spaltung in der türkischen Republikgeschichte hatte zur Folge, dass sich historische Ereignisse ständig wiederholten. Schleichende Islamisierung, Militärputsch. Schleichende Islamisierung, Militärputsch. Schleichende . . . Die Historie war gewissermaßen zyklisch, bis der fromme Mann, Erdoğan, das Ruder übernahm. Er hat das Militär derart geschwächt, dass die Generäle heute die Islamisierung nicht aufhalten können. Zum ersten Mal in der türkischen Geschichte kennen wir das Ende nicht, allein das macht die Ära Erdoğan so bemerkenswert. Die Rolle der Generäle hat unterdessen in abgeschwächter Form die andere Hälfte der Gesellschaft übernommen, die – nach westlichem Vorbild – für türkische Verhältnisse eine gesunde Oppositionskultur aufgebaut haben. Beide Autorinnen gehen leider zu wenig auf diese spannende Entwicklung ein.

Was aber beiden gelingt, ist das Zurechtrücken der Rolle des Militärs. Man ist leicht geneigt, die Generäle positiv zu rezipieren, sind sie doch die Wahrer der kemalistischen Prinzipien und des säkularen Staates. Dass aber das Militär die Staatsbürger ganz und gar nicht freundlich behandelt hat, ja selbst verantwortlich ist für eine endlose Reihe an haarsträubenden Menschenrechtsverletzungen, wird zugunsten der Integrität der Republik gern vergessen. Ironischerweise tragen so nicht zuletzt die Generäle die Verantwortung dafür, dass der Aufstieg von Erdoğans AKP kaum aufzuhalten war (freilich auch die äußerst schwachen Oppositionsparteien, wieAkyol bemerkt).

Im Gegensatz zu Temelkuran würdigt Akyol die demokratiepolitischen Fortschritte, die von der AKP in den Anfangsjahren durchaus ambitioniert betrieben wurden. Temelkuran hingegen, die die Partei von Anfang an mit großem Misstrauen journalistisch begleitet hat, sieht nun ihre Skepsis bestätigt. Die einzige Lösung ist, resümiert Temelkuran, „den Armen, den Unterdrückten und Entrechteten ihre Worte zurückzugeben“. Es ist mehr als besorgniserregend, dass gerade mit regelmäßigen Verhaftungen von Oppositionellen und Journalisten genau das Gegenteil passiert. Wohin steuert also die Türkei, insbesondere nach der Wahl am 1. November? Jede Antwort wäre reinste Spekulation. Wagen wir trotzdem noch eine These: Noch nie war die Zukunft dieses Landes so unberechenbar. ■

Cigdem Akyol

Generation Erdoğan

Die Türkei – ein zerrissenes Land im
21. Jahrhundert. 208 S., geb., € 22

(Kremayr & Scheriau Verlag, Wien)

Ece Temelkuran

Euphorie und Wehmut

Die Türkei auf der Suche nach sich selbst. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe und Monika Demirel. 240 S., geb.,€ 20,60 (Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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