Den Körper wegwerfen

Stark: Sandra Weihs' Roman über eine Suizidgefährdete.

Die Befindlichkeit junger Menschen sagt wahrscheinlich am meisten über den Zustand einer Gesellschaft aus. Und der Ich-Erzählerin Marie geht es nicht gut. Sie ist 18, hat gerade einen Selbstmordversuch hinter sich, wohnt in einer betreuten WG und ritzt, nein „metzelt“ sich unentwegt, um die bösartige introjizierte Mutter zu verletzen und weil der Schmerz von einem größeren Leid ablenkt. Ein Arzt, der sie näht, weiß, was für sie das Beste wäre: ab in die Psychiatrie, wo man ihr anständig den Hintern versohlen sollte.

Aus der Psychiatrie kommt sie allerdings, ihr sympathisch-verrückter Therapeut Willi setzt sich für sie ein, damit sie nicht noch einmal eingewiesen wird, dafür müsse sie ihm versprechen, ein Jahr lang keinen Selbstmordversuch zu unternehmen. Marie beschließt, sich auf das Geschäft einzulassen, ihre Heilung vorzutäuschen und sich nach Ablauf der Frist den Exitus zu verpassen.

Es beginnt ein Jahr der Sinnsuche (mitCioran und einer Rasierklinge in der Tasche), verknüpft mit der aufkeimenden Liebe zu Emanuel, den sie bei ihrem Therapeuten im Wartezimmer kennenlernt. Emanuel ist selbst eine schwer gezeichnete, junge Existenz: Seine Eltern starben bei einem Autounfall, als er drei Jahre alt war, seine Mutter arbeitete als Prostituierte, und ihm bleiben aufgrund eines Gehirntumors nur noch wenige Monate zu leben. Er wohnt mit seiner Großmutter Hilde in einem ehemaligen glamourösen Bordell, in dem Hilde die Puffmutter gab.

Marie verliebt sich, doch Emanuel weist sie zurück, denn er bedarf Marie aus einem anderen Grund: Sie soll ihm beim Suizid helfen. Marie beneidet Emanuel geradezu um seinen Tumor, denn „es gibt keine guten Gründe, um am Leben zu bleiben“. Sie beschließen, sich am 12. September umzubringen, doch beim Anblick der toten Mutter ihrer WG-Mitbewohnerin Amina passiert mit Marieeine Wandlung – sie denkt: „Zum ersten Mal schäme ich mich, meinen Körper wegwerfen zu wollen.“

Erweckungserlebnis

Auch Emanuel versucht, sie „zum Weiterleben zu verführen“. Er meint, man müsse im Leben Spuren hinterlassen, bevor man sterbe, worauf sie zusammen ein Graffito sprühen. Nach vier Stunden wie in Trance – bar jeglichen selbstzerfleischenden Denkens – hat Marie an einem Bild gearbeitet, das einen („guten“) Vater zeigt, der mit seinem kleinen Sohn von einer Brücke Papierflieger hinuntersegeln lässt. Da hat sie ein Erweckungserlebnis. Sie erkennt, dass sie etwas wert und auch imstande ist, etwas Bleibendes zu schaffen, denn das Graffito wird von den Passanten bewundert wie ein Kunstwerk.

Sandra Weihs ist mit ihrem Debütroman ein starker Text gelungen, auch wenn die Charaktere bisweilen tragisch überfrachtet und die dramaturgischenWendepunkte etwas zu explizit daherkommen: „Plötzlich kommt es mir falsch vor, mein Leben zu beenden – als ob ich eine andere geworden wäre.“

Abgesehen von manch überstrapazierten Metaphern („Das Gespräch zwischen uns fließt, als ob Dämme gebrochen wären und das Wasser sich nun neue Landschaften erobern würde“), lebt das Buch vom frechen, direkten, unverstellten Ton der Ich-Erzählerin, der der Schwere des Themas und der Charaktere eine erfrischende Leichtigkeit verleiht.

Für die Authentizität des Erzählten garantiert der biografische Hintergrundder Autorin: Als studierte Sozialarbeiterin (Jahrgang 1983) hat sie viel mit benachteiligten Kindern zu tun. Und so betrifft dieser Roman uns alle, geht es hier doch um die Gesellschaft von morgen. ■

Sandra Weihs

Das grenzenlose Und

Roman. 240 S., geb., € 20,50 (Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2015)

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