Das Aroma der Kolonie

Bei ihm sind sie alle versammelt: weltmännische Gentlemen, kauzige Kolonialbeamte, einfältige Offiziere, skurrile Ingenieure, exzentrische Ladys, scharfzüngige Witwen und schnöselige Dandys. Vor 150 Jahren wurde Rudyard Kipling, der Autor des „Dschungelbuchs“, geboren.

Auch eine Weltmacht macht Urlaub. In Indien, wo die Briten bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts das stärkste Bollwerk ihres Empires unterhielten, zogen sich die regierenden Herrschaften alljährlich im Hochsommer vor der Gluthitze der Ebenen in die Berge zurück. In Simla, einem 2000 Meter hoch an den Himalaja-Hängen gelegenen Luftkurort, hielten die Mächtigen Anglo-Indiens Hof, frönten der Geselligkeit unter ihresgleichen, hielten die gepflegten Sitten und bizarren Eigentümlichkeiten ihrer Englishness hoch.

So war es vormals in Britisch-Indien, das in der Hindi-Sprache Raj hieß. Die koloniale Sommeroase bot ein Jahrhundert lang saisonale Zuflucht: von 1834 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. In dieser imperialen Atmosphäre fand der junge Rudyard Kipling, als er von 1883 bis 1888 mit seinen Eltern regelmäßig in Simla die Ferien verbrachte, ausreichend Erzählstoff für seine ersten Prosastücke. Hier war alles versammelt, was er für seine frühen Geschichtensammlungen benötigte: weltmännische Gentlemen, kauzige Kolonialbeamte, einfältige Offiziere, skurrile Ingenieure, exzentrische Ladys, scharfzüngige Witwen, hellhäutige Bräute samt schnöseligen Dandys auf Freiersfüßen. In seinen „Plain Tales from the Hills“ („Falsche Dämmerung. Schlichte Geschichten aus Indien“) und „Soldiers Three“ („Das Soldatenkleeblatt“, beide 1888) gab der 23-jährige Kipling eine viel versprechende Talentprobe als zupackend realistischer Erzähler kurzer Geschichten voll sarkastischer Würze.

Simla war Ausgangs- und Bestimmungsort für die spätere Entwicklung des jüngsten Nobelpreisträgers für Literatur (1907). Er wurde zum „Barden des Empires“, der bald schon in lyrische und erzählerische Lobgesänge auf das kameradschaftliche Soldatenleben der Royal Army, die Stärke der kriegsgerüsteten königlichen Marine und den segensreichen Fortbestand des britischen Weltreichs überhaupt ausbricht. „Indem er das Hohelied von Pflicht und Arbeit anstimmt, das imperialistische Ethos zelebriert und die patriarchalischen Strukturen und Hierarchien der Gesellschaft verteidigt, schlüpft er in die Rolle des Gralshüters spätviktorianischer Werte“, urteilt sein jüngster Biograf Stefan Welz. Bereits dem 32-jährigen Poeten hat der angesehene amerikanische Kritiker und Sozialreformer Charles Eliot Norton 1897„imperialen Patriotismus“ attestiert und ihn in die Tradition der „königlichen englischen Dichter“ gestellt.

Dieser augenfällige und erfolgreiche Anpassungselan Kiplings entsprang einem früh verletzten Ich, das zeitlebens angeschlagen blieb und in jähen Stimmungs- und Meinungsschwankungen Stärkung suchte. Nur als Posaunist des britischen Imperialismus blieb Kipling firm, im Übrigen war er ein unsicherer Kantonist. Der sich als Sieger feiern ließ, war in Wahrheit ein Opfer des unter britischen Kolonialbeamten weit verbreiteten rigiden Erziehungsstils, der die Kinder der Empire-Elite schon früh im Mutterland bei Pflegeeltern unterbrachte, ehe sie in englische Internate wechselten.

So erging es auch dem am 30. Dezember 1865 in Bombay als Sohn eines englischen Museumskustos geborenen Ruddy, der ab seinem fünften Lebensjahr von besonders unqualifizierten Zieheltern so lang seelische und körperliche Misshandlungen erdulden musste, bis er nach einem Nervenzusammenbruch von seinen Torturen befreit wurde. In seinen dauerhaftesten Werken imaginiert Kipling eine abenteuerreiche Kindheit, die ihm selbst vorenthalten wurde. Zu ungebrochener Popularität (und ebensolchem Tantiemenstrom) gelangten seine weltweit beliebten Tiergeschichten in den beiden „Dschungelbüchern“ („The Jungle Books“,1894/95), in denen das Findelkind Mowgli sich unter den Geschöpfen des indischen Dschungels heroisch zu bewähren weiß.

Kiplings literarisches Meisterwerk indes stellt der Roman „Kim“ (1900) dar. In dieser episodenreichen Reisefantasie fängt er aus der hellwachen Wahrnehmung eines vagabundierenden Waisenjungen das Aroma des Subkontinents ein, empathisch all seiner Fülle an Farben, Stimmen, Gerüchen, Lebensweisen zugewandt. Leider wird im Indien der Neuübersetzung gelegentlich wie im Ruhrpott gesprochen; da wird etwa ein „Mann mit einer Matschbirne“ (man with a mud head) vorgestellt oder „ein großes Bohei“ darum gemacht, dass ein Bub „Senge kriegt“.

Kiplings umfangreiches, hintergründig persönliches Werk spiegelt in ebenso heterogener wie wenig souveräner Weise die Erfahrungen einer Generation von Kolonialherren zwischen imperialem Glanz und erlöschender weltpolitischer Bedeutung wider. Man erfährt viel von einer Welt, die mittlerweile längst verschwunden ist – was man nicht bedauern muss. Kipling bietet Geschichtsschreibung aus der Warte der Besatzer, aber immerhin Geschichtsschreibung – in Form kommensurabler Geschichten.

Der Autor veröffentlichte viel, doch meist nur mehr vom Gleichen. Ästhetisch hatte er mit fortschreitendem Fabulieren und Räsonieren immer weniger Berührungsängste vor dem Trivialgeschmack. Über weite Strecken schrieb er entlang der Ansichten der damaligen englischen Mehrheitsgesellschaft.

„Aufregung, Aktionismus, Reisetätigkeit und enttäuschter Rückzug behindern Kipling kaum in seinem literarischen Schaffen“, stellt Welz fest. Bei vielen seiner Prosaskizzen und Impressionen kam dem gefeierten Schriftsteller die Erfahrung als Journalist zupass, die er früh bei englischen Blättern in Indien erworben hatte. Das gilt vor allem für die Reiseberichte „Von Ozean zu Ozean“, deren Lektüre einem allerdings durch die eingestreuten Sottisen und Abwertungen von Menschen mit fremden Sitten und Gebräuchen gründlich vergällt wird. „Er gab sich weltoffen und tolerant, fiel aber gelegentlich zurück in die rassistischen Denkmuster, Klischees und Vorurteile seiner Zeit“, urteilt der Herausgeber Alexander Pechmann dazu diplomatisch. Für viele dieser Denkmuster zeichnet Kipling jedoch als Urheber.

Vollends reaktionär wurde Kipling im Alter, das bei ihm früh einsetzte. Im Burenkrieg und später im Ersten Weltkrieg gab er aus chauvinistischem Hochstand Hetzparolen von sich. Letztlich ist er, der Autor des 19. Jahrhunderts, nie im 20. Jahrhundert angekommen. „Vernachlässigte Berühmtheit“ konstatierte T. S. Eliot bei Kipling nach dem Krieg. Der einst so überwältigend akklamierte Starautor hatte sich, als er 1936 starb, längst selbst überlebt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2015)

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