Männer ohne festen Wohnsitz

„Mesopotamien“, so nennt Serhij Zhadan seine Heimat Ukraine und will uns ihre jüngste Geschichte auf dem Umweg über neun unverbundene Porträts einzelner Menschen begreifbar machen. Er erzählt vom belanglosen Alltag in Zeiten des Krieges und von der Normalität mitten im Wahnsinn.

Literatur macht Geschichte konkret. Die napoleonischen Kriege werden uns durch Pierre Besuchov und Andrej Bolkonskij in Tolstois „Krieg und Frieden“ nähergebracht als durch wissenschaftliche Abrisse, das Ende der österreichischen Monarchie wird durch die Trottas und die sie umgebenden Figuren in Joseph Roths „Radetzkymarsch“ vorstellbarer als durch Chroniken und Tabellen.

Serhij Zhadan, Jahrgang 1974, ist Ukrainer und lebt in Charkiw. In seinem 2014 im Original erschienenen Roman „Mesopotamien“ versucht er, uns die jüngste Geschichte seiner Heimat auf dem Umweg über neun, außer durch wenige stichwortartige Leitmotive unverbundene Porträts von einzelnen Menschen, teils in Ich-Form, teils in der dritten Person, begreifbar zu machen. In einer Rede im Wiener Akademietheater sagte Zhadan 2010: „Wie viele Male mussten die Korruption in den höchsten Ebenen der ukrainischen Regierung und die Unterschiede in der Aussprache der russischen und ukrainischen Namen angesprochen werden. Wie viele österreichische Rentner waren davon zu überzeugen, dass die demokratischen Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft stabil und irreversibel sind. Von wie vielen deutschen und Schweizer Bibliophilen musste ich mir Zweifel an den Aussichten der Marktwirtschaft angesichts des Machtkampfsder Oligarchen anhören. Am meisten wunderte mich immer, dass man ausgerechnet mich danach fragte.“

Und weiter: „Dennoch wäre es unhöflich gewesen, gar nicht auf diese Fragen zu antworten. Ständig galt es, einen Kompromiss mit dem Gewissen zu schließen und über die Reprivatisierung und die Probleme der Zweisprachigkeit zu referieren. Aus all diesen zahlreichen Begegnungen und Gesprächen ist mir klar geworden, dass die meisten westlichen Leser an der ukrainischen Literatur vor allem die Frage der Korruption, des Totalitarismus und der Folgen der Katastrophe in Tschernobyl interessieren. Und ich kann nicht behaupten, dass ich keine Antworten auf diese Fragen hätte!“

Wir sind bereit, einem Mann, der so spricht, hohen Kredit einzuräumen. Schließlich ist er Ukrainer und weiß, wovon er spricht. Aber vergessen wir nicht: Die Ukraine befindet sich im Krieg. Kriege sind schlechte Zeiten für die Wahrheit. Ich wäre weniger voreingenommen, wäre ich nicht in Stockholm Zeuge eines ausführlichen Gesprächs zwischen einer bekannten russischen und einer ukrainischen Schriftstellerin gewesen. Die russische Schriftstellerin äußerte sich extrem kritisch gegenüber der Politik Putins. Die anwesenden Teilnehmer der Runde aus Schweden, Norwegen, Finnland, Polen, Spanien, Slowenien, Kanada, auch ich, stimmten der russischen Kollegin zu und waren sich einig in der Einschätzung, dass die Annexion der Krim gegen das Völkerrecht verstoße und Russland die Souveränität der Ukraine zu respektieren habe – ob einem deren Politik gefalle oder nicht.

Die ukrainische Schriftstellerin aber zeigte keinen Ansatz zu einer kritischen Haltung der eigenen Regierung gegenüber. Sie fand an der Politik der Ukraine nichts auszusetzen und reagierte verärgert, wenn man diesbezüglich auch nur eine Frage stellte. Man muss kein Anhänger Putins sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine so einfach und widerspruchsfrei nicht ist, wie ihn die westlichen Medien größtenteils und erstaunlich konformistisch darstellen.

Spuren ukrainischer Folklore

Dies im Hinterkopf, lese ich Serhij Zhadans jüngstes Werk. Der Erzählton des Romans, ins Deutsche gebracht von Juri Durkot und Sabine Stöhr im ersten und von Claudia Dathe im zweiten Teil, nähert sich im ersten Teil, der mit „Geschichten und Biografien“ überschrieben ist, der mündlichen Rede an, wenn nicht gerade ein Händedruck (im Original?, nur in der Übersetzung?) „evasiv“ genannt wird. Der Stil wirkt zunächst munter, fast ein wenig naiv. Man meint, Spuren ukrainischer Folklore zu erkennen, humoristischen Fabulierens. Gogol gehört vermutlichzu Zhadans literarischen Vorbildern. Auch Tschechow muss er gut kennen.

Später kommen melancholische Stimmungen auf. Krankheit und Tod prägen längere Passagen, ein lähmender Mehltau der Apathie legt sich über die nicht so recht in Fahrt kommende Handlung. Dazu passend: unvollständige Sätze, ohne Subjekt oder ohne Prädikat: „Brachte Orangen.“ „Böser selbstsicherer Blick.“ Und dann gibt es, unvermutet, poetische Sätze wie diesen: „Ich bekam Lust, zwischen den Bäumen spazieren zu gehen, diesen Stimmen entgegen, in der Dunkelheit Frauenhände zu berühren, die grünen Monde aufzufangen, die von den Zweigen herunterbrechen, weil sie ihr eigenes Gewicht nicht mehr aushalten.“ Von Charkiw zu Isaak Babels Odessa ist es nicht allzu weit. Beide, Babel und Zhadan, haben sie's mit dem Mond, der wie ein Käse aussehen oder kupferfarben sein darf und dessen Licht einen Körper grün färben und das Gras wachsen lassen kann.

Da wird geheiratet, gefeiert, begehrt (und was daraus folgt), aber so richtig wohl scheint sich kaum eine der Figuren zu fühlen. Es wird auch gesoffen und sich geprügelt. Es gibt schon Gemeinsamkeiten zwischen der ukrainischen und der russischen Literatur – oder soll man sagen: zwischen der Ukraine und Russland? Serhij Zhadans Roman erzählt von einem belanglosen Alltag in Zeiten des Krieges, von der Normalität inmitten des Wahnsinns. Die gesellschaftliche Wirklichkeit kommt eher verschleiert, in Nebensätzen zur Sprache, vermittelt durch die teils banalen, teils skurrilen anekdotischen Geschichten der neun Figuren, von denen die einzelnen Kapitel handeln. In einem vereinzelten Satz auch spricht eine Dascha davon, „dass der Krieg weitergehe und niemanddie Absicht habe, sich zu ergeben“. Ein Stimmungsbild: „Vom Ufer blickten morgens sieche und kinderlose Frauen, Männer ohne festen Wohnsitz und arbeitslose Teenager auf die Stadt.“ Nicht gerade ein Idyll. Erst im achten Kapitel, das in Amerika spielt, findet Zhadan zum satirisch-humoristischen Ton des Anfangs zurück.

Der zweite Teil, der nur ein Neuntel des Buchs umfasst und den irreführenden Titel „Erläuterungen und Verallgemeinerungen“ trägt, ist in Versen geschrieben, genauer – jedenfalls in der Übersetzung: in strophisch gegliederter Prosa. Sie liest sich wie eine stilistische Fingerübung, wie der Versuch, Motive der vorausgegangenen „Geschichten und Biografien“ verknappt und in einer anderen literarischen Form zu variieren. Hier heißt es an einer Stelle: „Welchen Sinn hat die Dichtung? / Schreiben über das, was alle längst wissen. / Reden über Sachen, die uns genommen wurden, / unsere Enttäuschungen zum Klingen bringen.“ Und: „Jeder normale Dichter kann mit seinen Worten / jedes Blutvergießen stoppen.“

Ach, wenn es doch so wäre. ■

Serhij Zhadan

Mesopotamien

Roman. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr. 366 S., geb., € 23,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2016)

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