Der Name der Scham

Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts: Das hat sich Mithu M. Sanyal in ihrer Studie „Vulva“ vorgenommen. Durch viel Material und auf Effekt zugerichtet jagt sie highspeed durch die Kulturgeschichte des weiblichen Genitales.

Der weibliche Unterleib im Rampenlicht. Warum? Warum so plötzlich? Wo ist welcher Anlass wie sichtbar, das Unsichtbare zum Thema zu machen? Das schwarze Loch im weißen Fleck des weiblichen Körpers – weshalb kaufen Abertausende darüber einen Roman? „Feuchtgebiete“, dem schon der nächste Bestseller, „Bitterfotze“, gefolgt ist!


Gibt „die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ eine Antwort – der wissenschaftliche Essay „Vulva“, den die Journalistin Mithu M. Sanyal im Wagenbach Verlag gerade jetzt veröffentlicht hat? 238 Seiten mit dem Anspruch einer „bahnbrechenden Studie über die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts“. Mit dem Anspruch, „ein solides Fundament“ zu legen für „Post- und Popfeminismus und öffentlich enthüllte Privatgebiete“. Lösung des Rätseltabus?


Die Autorin kündigt eine „Pionierarbeit“ an: „Die Vulva neu in den Diskurs einschreiben!!!“ Den drei Ausrufezeichen folgt die Behauptung: „Niemand hat bisher in dieser Form über die Vulva geschrieben.“ Was für ein Versprechen! Erklärungsdruck besteht. Druck, eine Konjunktur zu erklären, in der operativ Designervaginas fabriziert und Scheidensekrete in Talkshows rituell verschenkt werden. Welch unfassbare Renaissance eines Problems, das es angeblich längst nicht mehr geben dürfte! Hat nicht die sexuelle Revolution die Röcke gelüftet? Hat nicht der Feminismus selbst die Dunkelkammern ausgeleuchtet?


Tilgung des Themas? Löschung des Konflikts? Nichts hat sich geändert, nichts in 80 Jahren! Seit der 1930er-Pubertät einer Gloria Steinem, Heroine des US-Feminismus, die sich noch als „Da-unten-Generation“ definierte. Getilgt? Gelöscht? Erledigt? Nein, nein – dieses Gebiet der Physis ist noch immer hoch vermint, die Gemengelage immer noch problematisch, immer noch hochaktuell, bis heute. Was also leistet die vorgelegte „kleine Kulturgeschichte des Abendlandes“ zur Erhellung der Karriere der Feuchtgebiete?


Mithu Sanyal erzählt die Geschichte des weiblichen Genitals von den antiken Hochkulturen bis zu zeitgenössichem Fluxus, Rap und Punk. Eine jahrtausendealte Laufbahn von Verdrängung und Verehrung, von kultischer Anbetung und Diffamierung, von „Aberkennung und Aneignung“. In Mythologie und Medizin verfolgt sie die „vulvaesken“ Spuren, in Skulptur und Striptease, in den Märchen und bei den Göttern.


Die Autorin braust highspeed durch die okzidentale Welt, zappt von Adam zu den „Riot Grrrls“, von Homer bis Picasso, von der Froschkönigin zur Turing-Maschine. Sie mixt Schleier und Schwerter, Statuen und Comics, Gälisch und Sanskrit. Und hoppt von Mesopotamien bis Indien, von Japan bis Arabien.
Das Ganze dauerflott und amüsant präsentiert, medial magaziniert und kurzweilig verfeaturet auch für kürzeste Aufmerksamkeitsspannen – wie es der Verlagsreklame gefällt: „frech, facettenreich, lustvoll“. Wohl tauglich als Einstieg für ein interessiertes Publikum, das mit einer Aktualisierung bis hin zu Harald Schmidt und Oliver Pocher bedient wird. Aber die Gender-Profis?


Sanyals Materialschlacht, voll auf den Schultern der längst reichlich vorhandenen Forschung, beweist jedenfalls auch für die allerjüngste Gegenwart, dass schon immer die Imago der Vulva sichtbar und unsichtbar gemacht, verstümmelt und ostentativ hergezeigt wird im symbolischen Kampf um Wertschätzung und Abwertung des weiblichen Geschlechts.


Verdienst der Studie dabei, die Dynamik im Streit um die Definitionsgewalt zu diagnostizieren: Was darf der weibliche Körper? Muss er stumm sein, darf er sprechen, darf er sich zeigen, muss er sich verstecken? Darf die Frau, der Mensch ohne Penis, überhaupt denken, sprechen, Sinn erzeugen? Deswegen heißt das Buch nicht „Vagina“. Warum? Darum! Weil der Kampf um die Wörter der Kampf um die Sache ist. Und deswegen heißt das Buch „Vulva“ und nicht „Vagina“.


Denn: Die „Vulva“ wie die „Vagina“, Pars pro Toto, stehen für Frau und Weiblichkeit an sich. Aber mit dem zum Verschwinden gebrachten Begriff „Vulva“ ist zugleich der sichtbare äußere Part der weiblichen Genitalien aus der symbolischen Ordnung verschwunden; mit dem zum Sieg gebrachten Begriff „Vagina“ dagegen wird das Sichtbare des Genitals auf das Unsichtbare reduziert, auf das Unsagbare, das Unsägliche, das Unaussprechliche – es bleibt das Loch. Die Frau wird zum Nichts. Ihr defektes Geschlecht ist zum Schämen und heißt darum: die „Scham“. So zeichnet Sanyal knapp die Linie von Aristoteles über Galen zu Freud und Lacan nach, und am Ende steht der bloße Mangel, der Nichtpenis, die Frau als Abwesenheit.


All dies könnte sich erklärend jenem heutigen vulvaesken Zeitgeist nähern, der vor dieser historischen Kulisse kurzzeitig sich als Sensation aufführt und doch nur Episode in der langen Dauer ist.
Könnte also diese Studie hilfreich sein für das Verstehen der neuesten Verwerfungen im Geschlechterstreit? Ja, weil sie den Jetztzustand lesbar macht als eine Momentaufnahme zweier großer geschichtlicher Linien von Annahme und Abweisung des Weiblichen. Nein, weil dieses Buch keine Erklärung liefert, warum sich gerade jetzt inflationär ein neuer Wirbel bildet.


Und so ist das Buch „Vulva“ selbst Teil dieser Inflation. Die mediale Zurichtung des Themas greift massiv in die inhaltliche Substanz dieser Untersuchung ein – bis tief in die Denk- und Argumentationsstruktur. Die „Generation Surf“ hat zugeschlagen. Catchy, wie die Journalistin, Jahrgang 1971, das Material aus den Quellen zusammenwürfelt und auf Effekt zubereitet.


Ein Highlight jagt das andere. Aber Standardwissen fehlt. Unverzichtbare Kanonpositionen, Thomas von Aquins misogynes Lehrgebäude der Scholastik und Niki de Saint Phalles begehbare Vaginaskulptur etwa, werden nicht gekannt; analytische Zusammenhänge wie die 2000-jährige medizinische Säftelehre – Mann heiß und trocken, Frau kalt und feucht – oder Laqueurs Ein-und-zwei-Geschlechter-Lehre werden nicht gekannt. Statt sachlicher Seriosität leicht inhalierbares Infotainment, dessen kesses Potpourri man gar nicht erst auf die zahllosen philologischen Fehler hin durchzählen sollte, verhunzte Grammatik, Eigennamen und fremdsprachliche Zitate. Wo war Wagenbachs einst legendäres Lektorat? Und wo der Korrektor, der haarsträubende Satzfehler von Einleitung bis Epilog durchgehen ließ? Und wer hat die Illustrationen zu verantworten, die in Druckerschwärze ersaufen? Und wer die fehlenden Bildnachweise?


All dies recht eigentlich ein Skandalon, denn diesem Sachbuch liegt immerhin eine Doktorarbeit zugrunde, von der man akademische Seriosität erwarten sollte. Einem solchen Blick hält das Buch nicht stand. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2009)

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