Wer hat den Vater verraten?

György Dragománs Roman „Der Scheiterhaufen“ ist zwar in der zu Ende gehenden Ära Ceausescu angesiedelt, liefert aber, weit über Rumänien hinaus, ein Panorama der psychischen Verwundungen des 20. Jahrhunderts.

Es gibt sie noch: die Autoren, auf deren neues Buch man unermüdlich wartet, auch wenn es fast ein Jahrzehnt dauert. Einer von ihnen ist der in Siebenbürgen geborene ungarische Romancier György Dragomán, der in seinem 2008 auf Deutsch erschienenen Roman „Der weiße König“ die Lebenswelt eines Kindes in Rumänien während der Ceauşescu-Diktatur auf unvergessliche Weise erstehen ließ.

György Dragománs neuer Roman, „Der Scheiterhaufen“, ist aus der Perspektive eines jungen ungarischen Mädchens der unmittelbaren Nachwendezeit in Rumänien geschrieben, und seine größte Leistung ist, wie sehr man sich mit der 13-jährigen Emma identifiziert, auch wenn man weder das Alter noch das Geschlecht noch die Erfahrungen mit ihr teilt. Konstitutiv für diese fast distanzlose Nähe, in die Emma einem beim Lesen rückt, ist das konsequente Präsens der Erzählung.

In dieser radikalen Ich-Erzählung ist alles unmittelbare Gegenwart, und man weiß jeweils nur genau so viel, wie Emma gerade erlebt und erfährt. Lediglich durch manche Dialoge steigen einem aus den Antworten ihrer Gesprächspartner gelegentlich Ahnungen auf, die über den Horizont hinausgehen, den Emma zulassen kann, aber sie relativieren ihn nie. Und Emmas Erzählen bringt zustande, was ihre Großmutter im Roman einmal als zentralen Punkt allen Erzählens beschreibt: „Die schmerzvollsten Geschichten könne man nur so erzählen, dass der, der zuhört, das Gefühl hat, dass sie ihm selbst widerfahren, dass es seine eigenen Geschichten sind.“

Am Beginn des Romans hockt Emma im Vorzimmer der Direktion eines Waisenhauses; die Eltern sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie wurde zur Direktorin gerufen, da eine alte Frau aufgetaucht ist, die behauptet, ihre Großmutter zu sein; dabei ist Emma in der Überzeugung aufgewachsen, auch ihre Mutter wäre ein Waisenkind gewesen.

Emma zieht zu dieser Großmutter in eine andere Stadt und gerät dabei in eine schwierige Situation: Der Großvater ist tot, und während die Großmutter liebevoll sein Andenken pflegt und manche, die ihn als ihren ehemaligen Französisch-Lehrer verehren, felsenfest überzeugt sind, er sei von der Securitate ermordet worden, munkeln andere, er habe sich das Leben genommen, um nicht erleben zu müssen, wie er als Geheimdienstspitzel enttarnt wird.

Diese Menschen lassen Emma ihre Abneigung spüren, und ihre Klassenkameradin Krisztina, deren Zwillingsschwester bei einer Demonstration gegen das Ceausescu-Regime von Sicherheitskräften erschossen wurde, hasst sie abgrundtief. Emma hütet das Andenken ihrer Eltern, das ihr ganz allein gehört, und immer wieder blitzen Situationen auf, in denen sie sich an Worte ihrer Mutter erinnert oder ihren Vater sieht, den obsessiven, unangepassten Maler, der auf die Doktrin des Systems pfiff. Auch für Emma ist Zeichnen ein Weg, sich der Welt zu vergewissern; und sie wird zur obsessiven Geländeläuferin. Vor allem aber will sie wissen, wer ihren Vater verpfiffen hat. Und in quälender Langsamkeit nähert sich der Roman der bitteren Wahrheit, die nicht direkt ausgesprochen, sondern zur unaussprechlichen Gewissheit wird: Es war die Großmutter, und sie hat es aus Angst um den Großvater getan, damit er nicht wieder in ein Umerziehungslager kommt. Ein nächtlicher Besucher, den Emma heimlich belauscht, bringt Klarheit: Der Großvater hat Suizid begangen.

Wie in Zeitlupe und unter einem Vergrößerungsglas werden die Folgen der Diktatur und der Kampf um die Deutungshoheit der noch ganz nahen Vergangenheit vorgeführt. Dabei zeigt sich, wie naiv und eindimensional der gängige mediale Fokus auf den Systemwechsel ist. Denn die kommunistische Diktatur ist eingesickert in die intimsten Bereiche, in die Beziehungen zwischen den Generationen oder in die Lehrer-Schüler-Verhältnisse; selbst die, die das alte System abgelehnt haben, sind in ihrem pädagogischen Drill und den Demütigungsritualen, die sie inszenieren, noch von diesem System gezeichnet.

Dragománs Roman „Der Scheiterhaufen“ leuchtet dieses Szenario aus der Nähe und in realistischer Detailgenauigkeit aus und abstrahiert es gleichzeitig: Das Geschehen spielt sich zwar unverkennbar in der ungarischen Minderheit in Rumänien ab, aus der György Dragomán selbst stammt, doch die Stadt ist eine imaginäre Stadt, deren Erkennbarkeit systematisch verweigert wird, und nicht einmal der Name Ceausescu oder das Wort Securitate fallen – gerade so wird das Einrasten gängigen Halbwissens erfolgreich verhindert. Ebenso überzeugend sind die magischen Elemente dieses Romans, die sich in Fantasien, Träumen und Handlungen Emmas Bahn brechen. Darin agiert sie ihre Desorientiertheit aus und findet zugleich eine Kraftquelle.

Emma ist eine der glaubhaftesten und authentischsten Mädchenfiguren, die ein männlicher Autor in den vergangenen Jahrzehnten gezeichnet hat, und es liegt an ihr, dass dieser Roman trotz des düsteren Themas, das er entfaltet, eine unglaubliche Leuchtkraft entwickelt. Denn hier spricht, denkt und handelt eine junge Frau, die nicht aufgibt und sich nicht unterkriegen lässt und der Wahrheit auch dann nicht ausweicht, wenn sie wehtut. Wie Emma vom Turm einesverwahrlosten Schwimmbads springt und sich unter Wasser in Algen und Betonpfeilern verfängt oder wie sie dann die Freundschaft Krisztinas gewinnt – da entfalten sich unvergessliche Schlüsselszenen.

Genauso stark wie in diesen bleibtEmma, als sie sich verliebt, denn Liebe und Wahrheitssuche gehen eine intensive Verbindung ein. Am Schluss, als die Großmutter an den Pranger gestellt wird, zeigt sich, wozu Emma fähig ist: zu einer Liebe, die die schmerzhafte Wahrheit nicht verdrängt und Wunden nicht verleugnet. Und die Großmutter erzählt in mehreren Strängen von ihrer ersten Liebe und der versteckten jüdischen Freundin in den Zeiten des Faschismus. Damit weitet sich der Roman „Der Scheiterhaufen“ zu einem Panorama des 20. Jahrhunderts. Genauso stark ist er aber in den kleinsten Details: in seiner schier unglaublichen Beschreibungskraft, durch die selbst das Backen eines Strudels zum unerhörten Ereignis wird, bei dem man den Atem anhält.

„Der Scheiterhaufen“ legt das Nachwirken des Kommunismus nicht nur in Rumänien in den Psychen und Biografien von Menschen auf seine ganz spezifische Weise bloß und hat auch einen präzisen Blick auf die Enttäuschung, die bald nach der Freiheit gefolgt ist. Mit György Dragomán hat die ungarische Literatur neben bereits international etablierten Schriftstellern wie Imre Kertész, Péter Esterházy oder Péter Nádas einen neuen Autor von Weltformat. ■

György Dragomán

Der Scheiterhaufen

Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. 496 S., geb., € 25,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2016)

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