Hier ist niemand glücklich

Ein Amerikaner in Europa. Henry James ist zugewandert. Und im deutschsprachigen Raum nie wirklich angekommen. Vielleicht, weil seine Geschichten von der Wanderschaft zwischen zwei Kontinenten erzählen. Es ist Zeit, diesen Autor, der vor 100 Jahren starb, zu entdecken.

Wird es diesmal klappen? Wird der große amerikanische Erzähler Henry James den deutschsprachigen Lesern endlich in seiner weltliterarischen Bedeutung nahegebracht? Genügend Neuerscheinungen seiner Romane und Geschichten haben die Verlage ja aus Anlass des 100. Todestages (am 28. Februar) auf den Markt befördert; selbst auf die Gefahr hin, dass andere Meisterwerke aus dem beachtenswert reichen Œuvre des Autors dabei unter den Tisch fallen.

Zum Beispiel sein früh vollendeter Roman „Bildnis einer Dame“. Diese mit feinsten psychologischen Pinselstrichen ausgeführte Frauenstudie kann als Schlüsselwerk des soignierten Stilkünstlers angesehen werden. Von ihm strahlen viele Motive und narrative Einsichten auf spätere Romane und Erzählungen aus. Dass eine junge Amerikanerin nach Europa fährt, um endlich das Leben kennenzulernen: Auf solch eine anregende Bildungsreise hat Henry James manche seiner abenteuerlustigen Heldinnen losgesandt. Die neu übersetzten Erzählungen „Daisy Miller“ und „Eine Dame von Welt“ sind beredte Seitenstücke dazu.

Isabel Archer, die Titelfigur im „Portrait of a Lady“, zeichnet sich durch unübertreffliche Anmut ebenso aus wie durch unbändigen Eigensinn. Dank dieser Eigenschaften und eines unvermutet ererbten Vermögens kann es sich die junge Frau leisten, eine beachtliche Anzahl von Verehrern beharrlich im Unklaren über ihre Absichten zu lassen. Ja, sie sieht keine Veranlassung, überhaupt Absichten jenseits ihrer Freiheit zu hegen. Stattdessen kostet sie diese Freiheit in einem Übermaß aus, das an Leichtsinn grenzt.

Von einem stattlichen Landsitz in England aus startet sie ihren Europa-Trip, der sie über Paris bis nach Florenz und Rom führt. Dort ereilt sie ihr Schicksal in Gestalt eines Verführers, der Mitspieler in einer ausgedehnten Intrige ist. Dass Isabel dabei trotz ihrer Intuition manchen Täuschungen erliegt, hindert sie nicht daran, die einmal erprobte Selbstgewissheit in einem schmerzhaften Erkenntnisprozess zurückzugewinnen.

Was Erzählsprache leisten kann, um die inneren Beweggründe einer vom Liebesverrat erschütterten modernen Frau, aber auch der sie umgebenden Gesellschaft tiefschürfend bewusst zu machen: Hier wird es dem Leser aufs Anschaulichste vorgeführt.

Henry James schrieb seine Geschichten zunächst für renommierte amerikanische Magazine, die vorwiegend von Frauen gelesen wurden. Seine unersättliche erzählerische Wissbegierde richtete sich mit Vorliebe auf das Spannungsverhältnis zwischen individueller (meist weiblicher) Selbstentfaltung und jenen gesellschaftlichen Zwängen, die durch Klassenzugehörigkeit und Reichtum umso schärfer hervortreten. Es war das Milieu, dem er selbst, als 1843 in New York geborener Sohn eines vermögenden Gelehrten und Globetrotters, entstammte. Es war die Flucht aus den rigiden Sittenzwängen dieses Milieus, die ihn früh aus der Neuen Welt fort ins Alte Europa trieb: unerschöpfliches Motiv seiner Erzählkunst. Auf der Suche nach dem besseren, dem nicht an sich selbst verzweifelnden Europa kann man bei Henry James fündig werden. Der ganze Kontinent ersteht in seinem Werk in seinen vielfältigen kulturellen Eigenarten aufs Neue.

Europa bei Henry James – das ist Liebe, Kunst, freier Blick, Anmut der Sitten, Epikuräertum. Europa: Das ist „Böhmen am Meer“. Amerika dagegen bleibt kühl, unnahbar, geldversessen. Ein Land der niedergeschlagenen Augen und calvinistischen Strenge. „Sie sehen aus, als würden sie jemanden zu einer Beerdigung begleiten“, heißt es im Roman „Die Europäer“ einmal sarkastisch über solch ein moralinsaures Puritanerwesen.

In „Daisy Miller“ spielt der Autor den Gegensatz der beiden Kontinente auf beinahe burleske Weise gegen seine Figuren aus. Darin trifft die Titelfigur, eine junge Amerikanerin, die mit Mutter und Bruder durch Europa reist, am Genfersee auf einen Landsmann mit dem bezeichnenden Namen Winterbourne, dem sie mit ihrem Charme kräftig den Kopf verdreht. Doch der in seinen calvinistischen Konventionen gefangene Amerikaner vermag für die kecke Mischung aus Unschuld und Unverfrorenheit, mit der das Mädchen sich über alle gesellschaftlichen Übereinkünfte hinwegsetzt, kein Verständnis aufzubringen. Als sie in Rom allzu ungestüm über die Stränge schlägt, verliert er das Interesse an ihr – was er später, nach ihrem tragischen Ende, bitter bereut.

1878 veröffentlichte Henry James seinen Roman „Die Europäer“, in dem seine Protagonisten die umgekehrte Route über den Atlantik nehmen: Die Baronin EugeniaMünster entflieht mit ihrem Bruder, dem Maler Felix Young, ihrer morganatischen Ehemit einem deutschen Duodez-Fürsten, um den reichen Verwandten in Neuengland ihre Aufwartung zu machen. Fromm und geschäftstüchtig sind die Ostküsten-Puritaner, aufrichtig bis zur Selbstverleugnung. „Sie sehen das Leben nur als Mühsal“, sagt Gertrud, die Tochter des Hauses. „Nichts macht sie glücklich. Hier ist niemand glücklich. “

Henry James war an Figuren, ihren Problemen und Leidenschaften interessiert und weniger an den epischen Handlungen. Das bringt ihn und seine meisterhafte psychologische Menschenkunde dem heutigen Leser so viel näher als die zuweilen doch verstaubten Interieurs seiner Schauplätze. In ihnen ist vorwiegend die High Society des späten 19. Jahrhunderts versammelt, bei der Männerden Frauen noch „den Hof machen“ und nicht nur Briefe, sondern auch Bücher noch mit dem Papiermesser geöffnet werden. Nicht vom allseits geübten Egoismus ist dort die Rede, sondern von der „Veranlagung, in der ersten Person zu denken“.

Ein faszinierendes Stück Selbstreflexion des alternden Schriftstellers hat jüngst Walter Kappacher übersetzt. In der Erzählung „Die mittleren Jahre“ zieht der erkrankte Romanautor Dencombe Bilanz über sein Schaffen und befindet es für ungenügend. „Eine zweite Chance – das ist die Illusion“, resümiert er. „Es gab nie mehr als eine einzige. Wir arbeiten im Dunkeln – wir tun, was wir können – wir geben, was wir haben. Unser Zweifel ist unsere Leidenschaft, und unsere Leidenschaft ist unsere Aufgabe. Der Rest ist der Wahnsinn der Kunst.“

Ein Jahr vor seinem Tod wurde Henry James 1915 doch noch Engländer. Das war keine bloße Formsache – England blieb zeitlebens sein europäischer Sehnsuchtsort, seinFaible. Sein Werk zeugt von seiner fruchtbaren Wanderschaft zwischen zwei Kontinenten. „Beidseits des Atlantiks“ – so steht es auf seinem Grabstein. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2016)

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