Der Richter und sein Clown

David Grossman legt mit „Kommt ein Pferd in die Bar“ einen wunderbaren Roman vor: Ein Stand-up-Comedian gibt dem Affen Publikum Zucker – aber auch Salz und Pfeffer.

Unerwartete Neuigkeiten (und die Angst davor) spielen im Werk des israelischen Autors David Grossman eine wichtige Rolle. Etwa im 2009 erschienenen Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“, in dem eine Mutter alles tut, um nicht vom Tod ihres Sohnes verständigt zu werden. Auch im neuen Roman: Der zwangspensionierte Richter Avischai Lasar wurde da um Mitternacht von Dov Grinstein angerufen. Ist schon der Zeitpunkt unüblich, so auch das Begehr des Störers: Lasar sei eingeladen, in zwei Wochen zu einem Auftritt Doveles, er sei jetzt Stand-up-Comedian, zu erscheinen, zudem bitte er um dessen Urteil.

Dovele? Dovele? Lasar, einsam seit dem Tod seiner Geliebten, Tamara, vor drei Jahren, erinnert sich – das ist wohl der lustige Kerl, den er vor über 40Jahren bei einem Mathematiknachhilfekurs kennengelernt und der als Einziger mit ihm, dem scheuen Kind, gesprochen hat. Daraus hat sich etwas zwischen Freundschaft und Bekanntschaft ergeben, auch wenn sie sich bald aus den Augen verloren haben. Soll sein, denkt sich der Richter, früher gefürchtet wegen Temperamentsausbrüchen bei Verhandlungen und strenger Urteile. Und sagt zu.

Nun sitzt er, obwohl kein Comedy-Fan („Für euch ist doch im Grunde alles nur Stoff, aus dem man Witze machen kann, jede Sache, jeder Mensch, alles ist erlaubt“) im Saal und harrt der Dinge. Erst erfolgt aus dem Off die Begrüßung des Publikums mit Nennung der falschen Stadt als Auftrittsort (üblich bei Comedians) und dann stolpert ein mickriges, bebrilltes Männchen in Cowboystiefeln auf die Bühne – und reckt den Hintern in die Höhe. Dovele richtet sich auf und beginnt sein Programm mit Schmähs auf Kosten einzelner Besucher, erzählt Witze, die man sogar auf einem FPÖ-Aschermittwochtreffen versteht, und spielt mit den Besuchern, die er abwechselnd lobt und tadelt („Ihr seid nur die Vorgruppe, das echte Publikum wird bald hereingelassen!“). „Was mach ich da eigentlich?“, denkt sich der Richter, notiert auf Papierservietten einzelne Aktionenund Aussagen des Possenreißers.

Nun gibt es ja viele, die Comedy für das Krebsgeschwür der zehnten Muse, Kabarett, halten, hervorgerufen und gefördert vom Aufkommen des Privat-TV seit den 1980er-Jahren. Motto: Humor nicht aus dem Kopf, sondern aus Magen und Darm. So hat es der hinter dem Publikumsapplaus herhechelnde Dovele anfangs nicht leicht, Sympathieträger beim Leser zu werden. Überhaupt: Ist dieser gestrenge Richter, er ist ja auch der Erzähler des Romans, überhaupt fair? Das erweist sich erst allmählich, wenn Lasar über vergessene (oder verdrängte) Erinnerungen an den Freund aus Jugendtagen grübelt. Und mehrmals mit dem sofortigen Verlassen des Saals spekuliert – jedoch bleibt, weil Dovele erklärt, heute Geburtstag zu haben, und zwischen seichten Witzen und Selbstbeschimpfungen von seiner Kindheit und Familie zu sprechen beginnt. Dabei schaut der Clown zwischendurch öfter auf den Tisch Lasars, stellt ihn sogar einmal den Besuchern als wichtigen Richter vor, der bald merkt: Et tua res agitur!

Wie wird man eigentlich Comedian? Da gibt es viele Wege, etwa dem Nichtentkommen des Klassenclownsyndroms. Bei Dovele war es so: Um nicht von Stärkeren in seiner Umgebung verprügelt zu werden, verfiel das kleine, schmächtige Kind auf drolligen Aktionismus. Er schaffte es, auf den Händen vor den Burschen wegzulaufen – so jemandem wird nicht ins Gesicht geschlagen, er wird verlacht und eher verschont.

Im paramilitärischen Jugendlager

Die gleiche Kasperliade führte er auf, wenn er die geliebte Mutter, die dem Holocaust knappentkommen war, abends von der Busstation abholte. Und dann war da die Geschichte mit dem paramilitärischen Jugendlager, an dem auch der spätere Richter teilnahm – und nicht einschritt, als sein früherer Freund von anderen gequält wurde. Und kein Wort sagte, als Dovele von der Campleitung geholt und in einen Bus gesetzt wurde, um zu einer Beerdigung gefahren zu werden.

Die Beerdigung: Immer wieder kommt Dovele im Programm zwischen Witzkaskaden auf sie zu sprechen. Wie er die Bedeutung des Wortes nicht kannte, nicht wusste, wer da beerdigt werden sollte. Irgendein Bekannter wohl – aber er hatte eigentlich keine. Wie dann der Lenker des Wagens, dem er aufgezwungen wurde, auf der langen Fahrt endlos Witze erzählt hat (einer davon ist auch für den Buchtitel zuständig), um keine Frage aufkommen zu lassen. Wie Dovele rätselte, ob das alles die verehrte Mutter beträfe – oder doch lieber den Vater?

Und schnell noch ein Witz! Vom Fahrer und Dovele auf der Bühne. Erst am Ziel erfuhr er, wer beerdigt werden sollte. Und flüchtete, unauffindbar für Tage. Der Richter betrachtet das alles staunend, schreibt Dovele „das Wesen oder die Begabung eines Dietrichs“ zu und konstatiert: „Diese Schläge, die er sich selbst zufügt, ich versteh es noch nicht, aber gerade dabei tut sich ein einladender Abgrund auf.“ Nun, der Abgrundtut sich eher im Publikum auf, das das Wechselbad der Gefühle zunehmend aggressiv macht. Ein Teil verlässt laut schimpfend den Saal, erbost darüber, dass ihrem Unterhaltungsbedürfnis nicht Genüge getan wird. Als Letzte geht eine große Frau mit silbrigem Haar – sie taucht hier erstmals auf – in Richtung Bühne, verabschiedet sich mit einem kurzen Nicken von Dovele. Und: „Als sie auf dem Weg nach draußen an meinem Tisch vorbeigeht, legt sie einen zusammengefalteten Zettel hin. Ich bemerke die Lachfalten um ihre tränenden Augen.“

Am Ende sind nur mehr Dovele, Lasar und eine kleine Frau übrig, die als Nachbarskind den Spaßvogel gekannt hat, ihn als gutes Kind lobt – ihr Zuruf auf die Bühne setzte bei Dovele die Erinnerungssuada in Gang – und auch bald geht. Das Gespräch der früheren Freunde am Ende verläuft kurz und förmlich. Bis auf Doveles kurzes Geblödel, der des Vaters Urteil im gleichnamigen Kafka-Text zitiert: „Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“ Und sich dabei die letzten Tropfen Rotwein aus der mitgebrachten Flasche über den Kopf rinnen lässt.

Der Roman lässt sich auf mehreren Ebenen lesen: als misslingende Abschiedsgala eines Clowns, der merkt, dass es mit seinem Können, gar mit seinem Leben zu Ende geht. Als Einsamkeitstirade eines Bühnengefangenen. Als spätes Gesprächsangebot an den alten, feigen Freund. Und: Autor David Grossman verrät uns leider nicht, was auf dem Zettel der Frau mit dem silbrigen Haar gestanden ist. So darf gerätselt werden. Vielleicht sogar: „Alles nicht wahr. Glaubt ihm kein Wort! Ich lebe noch!“ Es wäre der triumphale und tröstliche Schlusspunkt dieses tollen Romans. Oder wenigstens Name, Adresse, Telefonnummer und eine Einladungzu Kaffee und Kuchen. Bringt zwar Tamara nicht zurück, ist aber besser als nichts.

Empfohlenes musikalisches Begleitprogramm vor dem respektive beim Lesen: „The Death of a Clown“ von Dave Davies, Scott Joplins Ragtime-Klassiker „The Entertainer“. ■

David Grossman

Kommt ein Pferd in die Bar

Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. 256 S., geb., € 20,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)

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