Aus dem Papierlessen

Sie promovierte als erste Frau in Wien in Kunstgeschichte, war Kunsthistorikerin, Lyrikerin, Künstleragentin. 1938 wurde eine Forschungsreise für Erica Tietze-Conrat zum Weg ins Exil. In ihren Tagebüchern beschreibt sie das kulturelle Leben im Wien der Ersten Republik und schildert private Gegebenheiten.

Erica Conrat schloss 1905 als erste Frau das Kunstgeschichtestudium an der Universität Wien mit einem Doktorat ab und heiratete im selben Jahr ihren Studienkollegen Hans Tietze. Sie hatte viele Begabungen und sah sich als „viel- und tiefverzweigten Menschen“. Allem voran war sie eine herausragende Kunsthistorikerin: Die 2007 von Almut Krapf-Weiler edierte Auswahl ihrer Texte weist sie als Spezialistin für barocke Skulptur und als feinsinnige Rezensentin aus; ihre Tagebücher belegen, dass sie auch eine Expertin für das grafische Werk alter Meister gewesen ist.

Die Einträge aus den 1920er-Jahren dokumentieren Alltägliches und Familiäres und gewähren gleichzeitig in seltener Dichte Einblick in das kulturelle Leben Wiens während der Zeit der Ersten Republik – in die Netzwerke von Künstlern, Galeristen, Sammlern, Gelehrten und Museumsbeamten und deren Verbindungen zu Vertretern der internationalen Avantgarde. Erica Tietze-Conrat hing zärtlich an ihren beiden Söhnen und den beiden Töchtern, versuchte aber gleichzeitig, dem „Verkindeln“ – wie sie die ausschließliche Konzentration auf die Mutterrolle nannte – entgegenzuwirken. Erleichtert wurde ihr dies durch die Haushälterin Adele Kurzweil.

Der junge Maler und Grafiker Georg Ehrlich, den sie als eine Art Agentin unterstützte, nimmt in ihren frühen Aufzeichnungen eine herausragende Stellung ein. „Wir haben über die Kunst und das Leben gesprochen, über seine Kunst, sein Leben und mein Leben“, heißt es in einem Eintrag vielsagend. Sie selbst kämpfte um künstlerische Anerkennung, vor allem als Lyrikerin. Ihre Verse entstanden meist in der „Elektrischen“ – auf dem Weg von der Döblinger Villa in die Wiener Innenstadt und zurück. Erschienen ist nur ein Gedichtband, „Abschied“ (1926), illustriert mit Grafiken Ehrlichs.

In den frühen 1920er-Jahren verfasste Erica Tietze-Conrat auch Texte, die unter dem Namen ihres Mannes veröffentlicht wurden. Alexandra Caruso thematisiert den Aspekt der Geschlechterrollen, ohne ihn in den Mittelpunkt ihrer einleitenden Bemerkungen zu stellen. Denn „von weiblicher Frustration, die man aus heutiger Sicht in diese Umstände hineinlegen würde“, sei bei Erica Tietze-Conrat „nichts zu spüren“. Das Verhältnis der Eheleute hatte sich im Laufe der Zeit immer mehr zu einer echten beruflichen Partnerschaft gewandelt, vor allem, nachdem Hans Tietze 1925 seine Stelle als Beamter des Unterrichtsministeriums aufgegeben hatte und in den vorzeitigen Ruhestand getreten war. Für Erica Tietze gingen damit Jahre der getrennten Wege zu Ende, in denen sie immer wieder über Einsamkeit und Depressionen geklagt hatte. Ab 1926 erschienen die meisten Arbeiten unter beider Namen.

Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1937 und 1938, in denen das Ehepaar Tietze eine Tour de Force durch öffentliche und private Sammlungen Westeuropas absolvierte, haben den Charakter von Reisetagebüchern. Für ihr großes Katalogwerk zu den Handzeichnungen venezianischer Renaissancemaler (es erschien 1944 im US-amerikanischen Exil) sichteten die beiden eine kaum vorstellbare Fülle kunstgeschichtlichen Materials. Zuschreibungen wurden angezweifelt und korrigiert, Beziehungen zwischen Werken hergestellt – ein unerschöpflicher Fundus für heutige Kunsthistoriker.

Obwohl sich Erica und Hans Tietze auch um Zerstreuung bemühten – Ausflüge in die Natur unternahmen und nicht nur „aus dem Papierl“ aßen, sondern auch in guten Restaurants speisten –, forderten die Tausenden zurückgelegten Kilometer, das gewaltige Arbeitspensum und die beinahe allabendlich absolvierten Besuche bei Kollegen und Bekannten ihren Tribut. Erica Tietze litt an Schlafstörungen, und die ersehnte Ruhe wurde oft genug durch geschwätziges Museumspersonal, lärmende Kinder in Zügen oder die Geräuschkulisse in den Hotels gestört.Höchst interessant sind die Notizen über die vielen aus Deutschland geflüchteten Bekannten, denen die Tietzes allerorts begegneten – Wissenschaftler, Kunsthändler, Sammler und Museumsleute, die nach dem Verlust ihrer Existenzgrundlage versuchten, in der Fremde Fuß zu fassen. „Was für Kräfte d. Judentums hat dieser Hitler doch wiedergeweckt! Die letzte Rettung war er vor dem Sattwerden!“, versuchte Erica Tietze-Conrat dem auch Tröstliches abzugewinnen.

Die Nachricht vom „Anschluss“ Österreichs überraschte die Tietzes in Italien und machte ihnen klar, dass eine Rückkehr nach Wien ausgeschlossen war – die Forschungsreise wurde zum Weg ins Exil. „Jetzt noch ein Schlafmittel u. morgen wollen wir dann nach dieser Woche der Chocs u. Ängste ein neues Leben anfangen“, notierte Erica Tietze-Conrat am 19. März 1938. Doch erst gegen Ende des Jahres traf das ersehnte Permit aus Großbritannien ein. Nun zählten auch sie zum Heer der Emigranten. „Sie kommen illegal über die Grenze, werden ,ausgewiesen‘ u. bleiben schließlich doch irgendwie“, schilderte Erica Tietze die Situation in Frankreich. Mehrere Verwandte und Bekannte hatten Selbstmord begangen, und auch sie spielte mit dem Gedanken: „Wenn ich mir bez[iehungsweise] wenn ich uns einmal das Leben nehme, so nur in einem sehr vornehmen Hotel. Es gehört doch eine Umgebung dazu, die einen mehr anspricht.“

Hans und Erica Tietze waren schon als Kinder protestantisch getauft worden, doch die nationalsozialistischen Rassegesetze machten auch sie zu Verfolgten. Zudem war Hans Tietze, der der sozialdemokratischen Stadtverwaltung des „Roten Wien“ nahegestanden war, als „Kulturbolschewist“ angezeigt worden. Mit dem Tod von Ericas Mutter, Ida Conrat, war im Sommer 1938 „das letzte, allerletzte Band, das uns noch mit Wien verbindet, zerrissen“.

Alexandra Caruso, selbst Kunsthistorikerin, hat mit der Herausgabe der Tagebücher Erica Tietze-Conrat, die 1958 in New York gestorben ist, ein würdiges Denkmal gesetzt und zugleich viele zu Unrecht vergessene Kulturschaffende der Zwischenkriegszeit in die Erinnerung zurückgeholt. Welches Maß an Zeit und Geduld sich die Herausgeberin abverlangt hat, machen der umfangreiche, vorbildlich recherchierte Anmerkungsapparat sowie der Zusatzband mit dem Namensindex und einer ausführlichen Bibliografie deutlich. Selbst wenn vor allem die späteren Tagebücher „nicht unbedingt als einfache Lektüre zu bezeichnen“ sind, kann die ästhetisch äußerst ansprechend gestaltete Edition auch einer Leserschaft abseits der Fachszene ans Herz gelegt werden. ■

Erica Tietze-Conrat

Tagebücher

Drei Bände. Hrsg. von Alexandra Caruso. 944 S., 186 Abb., brosch., € 79 (Böhlau Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2016)

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