Was, wenn der Feind wir alle sind?

Was haben Flüchtlingsströme mit Immobilienpreisen zu tun? Saskia Sassen legt in ihrer Analyse die Logik systematischer „Ausgrenzungen“ frei.

Sie lesen Zeitung. Sie lesen, dass es mehr und mehr Menschen gibt, die auf der Flucht sind. Dass es mehr Armut und mehr Reichtum, dass es mehrUngleichheit gibt, mehr Arbeitslosigkeit, mehr Überwachung. Dass mehr und mehr Menschen aus ihren Wohnungen geworfen werden, weil sie ihre Kreditraten nicht zahlen können. Dass es in den Städten immer weniger finanzierbaren Wohnraum gibt.

In ihrem Buch „Ausgrenzungen“ widmet sich die Soziologin, Wirtschaftswissenschaftlerin und Städteforscherin Saskia Sassen großen Zusammenhängen: Sie setzt die weltweit wachsenden Flüchtlingsströme, das Phänomen des Refugee Warehousing (die Unterbringung von Flüchtlingen), Land Grabbing in Afrika, das Ansteigen der Immobilienpreisevon London bis Buenos Aires, Hongkong bis Dublin, die Ausbreitung von Luxusläden, denLeerstand in Innenstädten, asymmetrische Formen der Kriegsführung, Fracking, Umweltkatastrophen in Pakistan und die europäische Austeritätspolitik in Beziehung.

Sassen denkt diese Entwicklungen nicht als separate Trends: „Ich schaue hin und frage, was sehe ich hier eigentlich?“ Die gegenwärtigen sozioökonomischen Verwerfungen, die Neuerschließung und Gentrifizierung großer städtischer Gebiete, die beschleunigte Umweltzerstörung lassen sich nicht mehr mit bisherigen Begriffen verstehen. Sassen deutet sie als System von Vertreibung, ermöglicht durch ein schwer zu durchschauendes Geflecht aus mächtigen Einzelpersonen, Maschinen und Netzwerken. „Das, was in Griechenland wirkt, wirkt überall, auch hier.“

Land Grabbing findet auch im Weinviertel statt. Sassen beleuchtet die verheerenden Folgen auch für diejenigen, die denken, sie seien nicht betroffen, legt die Logik der systematischen Ausgrenzungen frei. Die komplexen Verflechtungen von Interessen und Wissen nennt sie Predatory Formations, Ausprägungen ein und desselben Phänomens: „Menschen werden abgedrängt, ausgemerzt, die unterschiedlichen Ausgrenzungsvorgänge sind nicht einfach die Folge der Entscheidungen oder Handlungen eines Einzelnen, eines Unternehmens oder einer Regierung, sondern Teil eines größeren Systems aus Elementen, Bedingungen und Dynamiken, die sich gegenseitig verstärken.“ Tools sind Finanzinstrumente, juristische Expertise undEngineering-Kompetenz.

Pierre Bourdieu, der die Ökonomisierungsämtlicher Lebensbereiche und Ausgrenzungen als Inklusions- und Exklusionsmechanismen bereits in den 1980er-Jahren ausführlich anders beschrieben hat, wird nicht erwähnt. Sassen präsentiert diese Entwicklungen als ein Phänomen einer „noch nie als übergeordnet dargestellten“ Dynamik und bleibt dennoch vage, worin denn das spezifisch Neue der Ausgrenzungen liegt. Mit Zahlen macht sie deutlich, dass gegenwärtige kapitalistische Gesellschaftsformen zu extremen Ungerechtigkeiten, zur Entsolidarisierung der Menschen, zu einer Erosion der Demokratie und immer wieder zu Gewalt und zu Kriegen führen. Krieg, lese ich bei Jacob Bronowski, sei eine organisierte Form von Diebstahl. Mein Freund in Berlin erzählt, er habe vor Kurzem mit einer Freundin in Beirut geskypt. Es sei verrückt, was dort passiere: Diese Kriegstragödien – parallel dazu würden Investoren aus den Krieg führenden Ländern in Damaskus angeblich bereits Immobilien kaufen.

Sassens nüchterne Kritik aktualisiert die Grundlagen für eine Ökonomie des 21. Jahrhunderts. Die schiere Komplexität der Weltwirtschaft macht es schwer, Verantwortlichkeiten zu benennen. Sassens Bestandsaufnahme beschäftigt, lässt Raum für Fragen wie „If that's the analysis, then what's the cure?“ Warum es zu keiner klassischen Revolution kommen wird, ist in der (holprig übersetzten) deutschen Version auf Seite 19 zu lesen. ■

Saskia Sassen

Ausgrenzungen

Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. 320 S., geb., € 25,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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