„Habe ich das nicht schon notiert?“

„Vor der Baumschattenwand nachts“: Das sechste Journal Peter Handkes stellt Beobachtungen Betrachtungen gegenüber und führt Erlesenes mit Erlebtem eng.

Mit dem Band „Vor der Baumschattenwand nachts“ setzt Peter Handke die Reihe der Journale fort, die seit bald vier Jahrzehnten erscheinen. Folgt auch jeder der inzwischen sechs Bände sorgsam ausgewählter Einträge aus Handkes Notizbüchern einem jeweils spezifischen Prinzip, so gehören sie unübersehbar gemeinsam zu einem großen Schreibprojekt. Die Einträge nahmen vielfach, oft freilich nur in Andeutungen, Entwicklungen vorweg, die sich erst im Lichte späterer Werke vollständig erschlossen. Das jüngste Journal deckt den bisher längsten Zeitraum von acht Jahren ab; es reicht bis unmittelbar in die Gegenwart.

Wie von der Quelle bis zur Mündung wird der Fluss immer tiefer und breiter: Das erste Jahr füllt gerade gut zehn Druckseiten, das letzte hingegen fast 100. Handke gelingt es, die Fülle zu fassen und zu gliedern und – der Obstbau bleibt für ihn ein wegweisendes Ideal – zu lichten. Dieses Journal vereinigt die Vorzüge aller vorangegangen, indem es Beobachtungen Betrachtungen gegenüberstellt, Erlesenes mit Erlebtem engführt. Es besticht durch die strengste Komposition, denn „Wahrheit heißt Zusammenhang; Wahrheitssuche ist aus auf Zusammenhang“. Privates bleibt ausgespart, wodurch Raum für Persönliches gewonnen wird, das auf unsentimentale Weise anzurühren versteht.

Konnte man schon das Drama „Die schönen Tage von Aranjuez“ als die Zurücknahme der Vertreibung eines Urpaares aus dem Paradies lesen, so liegt es auf der Hand, das Schattenspiel vom Rande der wirklichen Weltals Lexikon von Z bis A – man denke an den Untertitel – aufzufassen, als Kompendium von den letzten und den ersten Dingen. Das im Entstehen begriffene „Letzte Epos“ mit dem Titel „Die Obstdiebin“, von dem immer wieder Rede ist, wird wohl auch flirrend und schillernd zwischen dem Garten Eden, dem eigenen Obstgarten und denen der Nachbarn angesiedelt sein. Drei Lebens- und Schreiborte werden immer wieder genannt – das Kindheitsdorf Stara Vas mit seinem slowenischen Namen, die Niemandsbucht als Bleibe seit mehr als einem Vierteljahrhundert und die Picardie als noch zu entdeckendes Neuland.

Der von Handke einst als „Ewiger Sohn“ bezeichnete Kafka kommt wieder zu Ehren, und Goethe wird zum Leitbild, das sowohl seinen Sturm und Drang wie auch seine Klassik überstanden und im Alter erreicht hat, was schon der Titel eines ganz frühen Aufsatzes Handkes besagte: „Die Literatur ist romantisch.“ Ihm verdanken sich auch die Mottos des Bandes, wonach er einen beschränkten Horizont genieße und in seinem „beschränkten Kreise das Herkömmliche lebendig zu erhalten bemüht“ sei.

Sprachlust steht neben leiser Schwermut, Erhabenheit neben aufblitzendem Witz. Von der Liebe ist immer die Rede, vom Lieben als lebenserhaltendem Tun. Vom Erzählen und Erzähltbekommen, vom Lesen als Wirklichkeitsübung. Von dem Bedürfnis nach und der Befreiung von Heimat. Mittelhochdeutsche Dichter treffen auf Bob Dylan, Van Morrison und Johnny Cash wie ihresgleichen und bedürfen weder der Vermittlung noch der Versöhnung. Abgedroschene Phrasen werden entmachtet durch bald kühne, bald freche Paraphrasen. Der Vaterlose ehrt seine Vorfahren, zärtlich und liebevoll spricht er von Kindern. Schwarzweiße Elstern und Zitronenfalter erweitern die Sicht. Er formuliert anderthalb Dutzend elfte Gebote, und sieben Dutzend Einträge kreisen um das bald groß, bald klein geschriebene Wort „ideal“.

Auffällig ist die eingehende Auseinandersetzung mit Religion und Ritus, mit islamischer und christlicher Mystik anhand von Ibn‘Arabī und Jakob Böhme, den Hegel als den ersten deutschen Philosophen bezeichnete. „Das Wort für ,steinigen‘ fehlt in meinem (dicken) arabischen Wörterbuch“ oder „EinzigJesus Christus hat eine reale Vision von der Zusammengehörigkeit aller Menschen, von nosotros, gehabt; Jesus war der einzig wahre Politiker“. Daher überraschend und doch schlüssig: „Ich bin nicht zu politisieren.“Hierher gehört auch der Kommentar zu Handkes jüngstem Stück: „Die Welt ist voll, mehr und mehr, von euch Unschuldigen, die ihr Krieg führt, ohne euch dessen bewusst zu sein“ – und das nicht zum ersten Mal erklärte Ziel seines Dichtens als friedenstiftendes Tun: „Verb zur Poesie: Sie ,entkriegt‘.“ ■

Peter Handke

Vor der Baumschattenwand nachts

Zeichen und Anflüge von der Peripherie. 2007–2015. 424 S., geb., € 28 (Jung und Jung Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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